selbst im Verhältnis zum Kunstwerk. Der Ruhepunkt für den Körper wird zum Generator der geistigen Bewegung, und
dies im Angesicht der Schattenwelt aus Bilderzählungen und ihren dramatischen Begebenheiten.
Der Kunstsitz ist ein isolierter Gegenstand. Er fügt sich nicht, wie es Jean Baudrillard beschrieben hat, in das
»System der Dinge«, innerhalb dessen wir unsere Welt funktional und symbolhaft gestalten. Der Gegenstand steht im
Mittelpunkt der Betrachtung, als ein individualisiertes Ding von eigenwilliger PrÖsenz, entlassen aus seiner Aufgabe, ein
nur geduldeter, dienstbarer Geist zu sein.
Die Typologie des Kunstsitzes, die Klaus Dierßen aufstellt, appelliert an die Imaginationskraft des Betrachters. Aus
den sparsamen Indizien von angeschnittenen Bildrahmen, Fußbodenbelägen, Wandnischen und Fensterlaibungen gelingt es ihm
vielleicht, den musealen Raum zu rekonstruieren und zu benennen. Im Grunde ist dies jedoch ein eher beiläufiger Effekt: Die
Vermutung, dass schwere Lederbänke der Würde eines traditionellen Kunstmuseums angemessen sind, und leichte Holzstühle
auf eine moderne Ausstellungshalle schließen lassen, steigert zwar die Freude am Enträtselungsspiel, gibt jedoch noch
keinen Aufschluß darüber, warum die Kunstsitze auf der einen Seite so entwaffnend komisch und auf der anderen so
überzeugend persönlichkeitsstark wirken. Beides, Komik und Ausdruck, scheint miteinander in Beziehung zu stehen und beides
hat etwas zu tun mit der ästhetischen Anmaßung des Environments, dem der Kunstsitz entstammt. Ein dürftiges
Bänkchen, pragmatisch kombiniert mit Heizungsrippen, Feuerlöscher oder dem obligatorischen, wie ein zerzauster Wachhund an
der Kette liegenden Ausstellungskatalog ist ein stilles, spotterfülltes Menetekel über die Unzulänglichkeit menschlicher
Gestaltungskraft. Hier offenbart sich nichts als die Absicht, einem rudimentären menschlichen Bedürfnis gerecht zu werden,
das schnell und diskret abgewickelt werden sollte.
Jedes dieser Möbelstücke erzählt von den Erwartungen, mit denen der Besucher empfangen wird und von den Ansprüchen
an ihn, die sich in der Wahl und Anordnung des Kunstsitzes äußern. Einsames, aufrechtes Verharren, asketische
Kontemplation fordern die Sitze ein, oder kultivierte, langatmige Aussprache mit dem Nachbarn, auch nachdenkliches, versunkenes Schweigen
im Clubsessel unter der Stehleuchte. Die Sitze sind deshalb nichts anderes als eine Wunschprojektion, gerichtet auf eine Chimäre mit
Namen Publikum, das sich aus unzähligen Personen unterschiedlichster Herkunft, Sozialisation und Bildung zusammensetzt. Der
Kunstsitz repräsentiert den Idealtypus des Besuchers, als Vertreter einer disziplinierten, konzentrierten und trainierten
Spezies, der sich in statuarischer Ruhe mit dem ästhetischen Programm des musealen Raumes harmonisch vereinigt. Doch das Wissen um
die Unzulänglichkeit der menschlichen Natur, die auch vor dem Museum nicht Halt macht, erzeugt Ironie in der empfundenen Diskrepanz
zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Auch ein von Menschen befreiter Kunstsitz spricht über Menschen, über lärmende,
sich lümmelnde Schulkinder, über ächzende Rentner, über schlampig gekleidete Touristen mit unförmigen
Rucksäcken, über stille Nutznießer, die über die Plastiktüten zu ihren Füßen wachen. Ein Museum
ist nicht nur ein Tempel der geistigen Läuterung und Ort der versunkenen Betrachtung, sondern auch ein Bahnhof, eine U-Bahnstation
und ein Kinderspielplatz. Sehr häufig jedoch ist es nichts weiter als ein Friedhof, ein Archiv der Toten, ihrer Träume und
Sehnsüchte, kaum beachtet und verlassen von allem
Klaus Dierßen
Hildesheim 2021