Lebendigen. Der Kunstsitz zeigt an, dass die Kunst ein Gegenüber braucht, um zum Leben zu erwachen.
Er zeigt aber auch an, dass die Begegnung zwischen dem ästhetischen Zeichen und dem Menschen, der aufgefordert
ist, es zu entschlüsseln, eine labile und transitorische bleiben muß. Mit der Serie Kunstsitz hat
es Klaus Dierßen unternommen, die vermeintlich klaren Linien der Wahrnehmung zu verschieben, zu verwirren und
wieder neu zu ordnen. Die Logik eines Systems, das eindeutige Hierarchien im Verhältnis der Erscheinungen und
ihrer Entschlüsselung durch Interpretation errichtet, wird unterwandert und auf seine Fähigkeit hin überprüft,
über das Abwesende mehr zu sagen als über sich selbst. Im Kunstsitz vereinen sich Raum, Kunstwerk und Betrachter
als voneinander abhängige und aufeinander angewiesene Größen, die ausschließlich durch Imagination sichtbar
werden. Als marginales Verbindungsstück zwischen einer realen und einer irrealen Welt verkörpert der Kunstsitz in
seiner Indifferenz doch im eigentlichen Sinne die Gratwanderung des menschlichen Bewußtseins zwischen Wirklichkeit und
Vorstellung, zwischen Anschauung und Phantasie. Wer täglich über Stunden auf der Bordone-Saal-Sitzbank verweilt, hat
das Denken als Vergewisserung seiner selbst und damit als letzte Bestätigung seiner Existenz zum Mittelpunkt seines Daseins
erhoben. Nur hier, im matten Widerschein einer körperlichen Wirklichkeit, nimmt sich der Mensch noch als ein »nicht
verzweifeltes«, als ein diesseits der Schwelle zur reinen Imagination verankertes und vorläufig aufgehobenes Wesen wahr.
Beatrix Nobis
Klaus Dierßen
Hildesheim 2021