und vor Wänden, die etwas größeres adeln sollen, entfaltet er hartnäckig seine Eigenwilligkeit. Er ist geschwungen
und gespreizt, ein Arabeske im Raum, oder ein wehrhafter Turm, ledern aufgerichtet, ein Symbol barocker Formenfülle. Er
drückt sich als dünngliedriger Hocker an die Wand, oder gibt sich snobistisch wie ein Dandy aus dem Herrenclub. Er
bildet Kuben, Zylinder und Pyramiden, zeigt organoide und vegetabile Hypertrophie oder kommt im härenen Gewand der
Büßerbank mit altjüngferlicher Empfindlichkeit daher.
Seine feierliche Inthronisation zum Gegenstand des forschenden Interesses, seine Spezifizierung und Kategorisierung sagt
zunächst natürlich etwas aus über die Phantasie, Kreativität und den manchmal stupenden Gestaltungswillen
seiner Designer, wobei Vertrautes aus der Bauhaustradition ebenso oft zu finden ist, wie der Verschnitt mittelalterlicher
Faltstuhl-Rustikalität oder das elegante Louis-Seize-Meublement-Imitat. Klaus Dierßens Augenmerk richtet sich
vordergründig, die Falle von Fachkenntnis und Objektivität wohl präpariert, auf das formale Erscheinungsbild
der Sitze. Doch diese Typologie erweist sich als hintersinnig, weil sich darin das Vorhaben artikuliert, in der Beobachtung der
Wahl, Positionierung und Reihung, der Individualisierung und Sozialisierung des Möbels im Museum den Verursacher erkennbar
werden zu lassen. Das ästhetische Phänomen Kunstsitz, kaum jemals nur irgendwie und zufällig entstanden,
charakterisiert und beschreibt nichts anderes als den Menschen, der es ausgewählt hat und den Menschen, der es benutzt,
letztlich, in der Synthese beider Kräfte, im eigentlichen Sinne das Denken, das mit der Kunst, außerhalb der Kunst
und doch im Grunde nur durch ihren Antrieb stattfindet. Der Kunstsitz ist das Relikt aus der Wirklichkeit, an dem wir
uns, wenn wir die Kunst betrachten, orientieren, eine Denkmaschine, betrieben mit einer Energie, die aus der Unermüdlichkeit
menschlicher Anschauungskraft gewonnen wird. Sie kumuliert in sich alle Wünsche, Projektionen und Erwartungen von Seiten der
»Experten« und von Seiten der »Laien«. Die Kunst selbst jedoch bleibt unschuldig, ein mehr oder weniger
zufälliges, illusionistisches und labiles Konstrukt, in das wir unsere Gedanken und Gefühle investieren.
So bezeichnet der Kunstsitz ein Paradoxon: Der Fluß der Bilder, die Zeit, in der wahrgenommen und verglichen
wird, wird vom Betrachter willkürlich angehalten und ausgesetzt. Der Besucher emanzipiert sich, für einen Moment,
doch unbeeinflußbar, entscheidet er nur noch über sich, seinen Körper und seinen Geist. Jedes Kunstwerk, sagt
Georg Lukács in seinem Aufsatz »Kunst und objektive Wahrheit« schafft seine eigene Welt. »Die Geschlossenheit
des Kunstwerks ist die Widerspiegelung des Lebensprozesses in seiner Bewegung und in seinem konkreten bewegten Zusammenhang«.
Oder, in ähnlicher Weise, Hans-Georg Gadamer: »Jedes Kunstwerk hat so etwas wie eine Eigenzeit... Erinnern wir uns, dass
wir Bilder aufbauen und lesen oder dass wir eine Architektur ergehen, erwandern«. Der »inneren Bewegung«, der
»Eigenzeit« des Kunstwerks, das als ästhetisches Zeichen nach Aufmerksamkeit verlangt, weil es sich als
Bedeutungsträger von »Sinn« und »Wert« offeriert, setzt der Betrachter die Bedingungen seiner
physischen, psychischen und geistigen Disposition entgegen. Denn dort, wo die Kunstsitze für ihn bereitgehalten
werden, duldet er nicht mehr, dass über ihn verfügt wird, sondern er ist gewillt, sich dem Anspruch des Gesehenen
zu entziehen, ohne es dabei aus den Augen zu verlieren. Der Kunstsitz dient dazu, die objektive Wahrheit, die das
einzelne Kunstwerk zu erfüllen verspricht, zu überprüfen. Er bietet eine Insel der Introspektion für
den Besucher, für eine Betrachtung seiner
Klaus Dierßen
Hildesheim 2021