Der Besucher im Museum ist vielleicht mit einem vagen Bedürfnis nach Genuss und Unterhaltung zu seinem Rundgang
aufgebrochen, findet sich jedoch unvermittelt in der Rolle eines Sinnesakrobaten wieder, der visuelle Eindrücke
in einer Vorstufe der sprachlichen Benennung blitzschnell zu ordnen und zu vergleichen hat. Da jeder Mensch spürt,
dass er ein Geschenk zu vergeben hat, wenn er sich der Aufforderung entzieht, dem Kunstwerk seine eigene, intellektuelle
und nur ihm zugehörende Reflexion entgegenzusetzen, entsteht eine in sich widerstreitende Spannung zwischen Werk und
Betrachter, in der eine Gedankenbewegung ausgetragen wird, die selten harmonisch verläuft. So versteht sich der
Besucher einerseits als aktiver, auswählender, »mündiger« Mensch, andererseits bleibt er passiv, wird
geführt und gegängelt, beobachtet und überwacht. Vor allem aber sieht er sich allein gelassen mit seinen
Gedankenspielen und seinem persönlichen Erfahrungsschatz, weil das Kunstwerk wohl agiert, aber nicht reagiert, vielmehr
ihn hochmütig konfrontiert mit einem unübersichtlichen Apparat aus Formen und Ideen, die alle zugleich um seine
Aufmerksamkeit buhlen und ihn doch ignorieren, weil sie seinen Applaus nicht nötig haben.
Der Kunstsitz, durch Klaus Dierßens fotografisches Sehen als bedeutungsvoll annonciert, enthält als
Abwesendes nicht nur den gestalteten musealen Raum und die ihm zugeordneten, triumphal sich selbst genügenden Kunstwerke,
sondern als dritte, entscheidende Instanz den Betrachter, auch er ein leeres Zeichen, das mit Imagination angereichert werden
muß. Seinen Körper bildet der Kunstsitz im Negativ ab, ihn formt und prägt er als Gegenstand mit normativer
Kraft. In seiner eigentümlichen Ähnlichkeit zur Anatomie des Menschen schlägt der Kunstsitz die Brücke
zwischen Wahrgenommenem und Wahrnehmendem, zwischen den wechselnden Aktiv- und Passivpositionen im Verhältnis von Kunst und
Betrachter. Als Reproduzent der Bewegung des Körpers, wie der Statik des Gegenstandes, erscheint er als Personifikation eines
geduldigen, oft unscheinbaren, gelegentlich jedoch prätentiösen und durchaus anspruchsvollen Vermittlers. Aus diesem Grund
ist der Kunstsitz nicht nur Gegenstand, Möbelstück und Bestandteil der in der Regel asketisch konzeptionierten
Infrastruktur eines Ausstellungshauses, sondern auch Darsteller eines Schauspiels, das die Schwingungen des Unterbewußtseins
reproduziert.
Außerhalb der Ebene, auf der die großen Gesten und Gefühle in den Bildern, Skulpturen und Installationen
verhandelt werden, vollzieht der Kunstsitz sein kleines Pantomimen- und Komödienspiel, in dem er von den ganz
alltäglichen menschlichen Bedürftigkeiten ebenso erzählt, wie von den unermüdlichen Gedankenflügen
und Hirngespinsten des Geistes. Im Affektstau der illusionistischen und abstrakten Bildräume, der Farbwirbel und
Pinselschläge, der medialen Ereignisse und interaktiven Aufforderungen, erzählt er vom Hier und Jetzt der Gegenwart
und den in ihr verankerten Bewegungen des Körpers und der Seele. Der Kunstsitz ist ein Fixum im Strom der
widerstreitenden Zeitlichkeiten, ihres historisch abgeschlossenen, wie ihres subjektiv wahrgenommenen Verlaufs, ein immer
gegenwärtiger Zeuge sich ständig wandelnder Gegebenheiten. Der Kunstsitz wird von Klaus Dierßen seiner
Rolle am Rande der markant heroischen und metaphysischen, bisweilen auch geschwätzigen und schwadronierenden
künstlerischen Zeichenwelt enthoben. Er ist im wahrsten Sinne ein objet trouvé, ein Fundstück, das, aus seinen
Gegebenheiten isoliert, nun erst wirklich sichtbar wird. Im Licht, das etwas anderes bestrahlen will, auf Böden
Klaus Dierßen
Hildesheim 2021