Klaus Dierßen
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auf einen Nebenschauplatz gerichtet, der Bedeutung, Geheimnis, auch eine Ahnung von vitaler Eigenmächtigkeit des Gegenstandes anzukündigen scheint.

Ein Museum ist ein Spiegel subjektiver Auswahl und Wertung von Kunst durch Menschen, deren fachliche Qualifikation darin besteht, Entscheidungen zu treffen, die ihrer Erfahrung, ihrem Wissen und ihrem Geschmacksurteil entspringen. Eine vermeintliche Objektivierung findet statt, weil in einem Museum oder Ausstellungshaus nicht nur eines, sondern zahlreiche Kunstwerke versammelt sind, die einander zugeordnet werden, sich unter historischen oder stilistischen Aspekten darbieten und deshalb Kontinuität zu vermitteln scheinen. Die Kunst in einem Museum demonstriert sowohl das lineare, zeitliche Nacheinander von Erscheinungen, wie sie auch als vereinzelt sich öffnendes Fenster zu betrachten ist, das den Ausblick in eine andere Wirklichkeit erlaubt. In beiden Fällen wird die Realität des Betrachters nicht einbezogen, sie wird ihm, sobald er das Museum betritt, sogar soweit genommen, dass seine Selbstwahrnehmung auf ein Mindestmaß eingeschränkt ist.

Noch vor einigen Jahrzehnten war der Besucher des Museums ein nicht allzu gern gesehener Gast. Er hatte sich strengen Regeln zu unterwerfen, auf die er allenthalben hingewiesen wurde: Nicht essen, nicht trinken, nicht rauchen, nicht fotografieren. Nicht laut sprechen, nicht die Absperrungen übertreten, die Kunstwerke nicht berühren, den Anweisungen des Personals Folge leisten. Der Besucher nimmt auch heute noch, im Zeitalter allgemeiner Libertinage, mit dem Betreten der Ausstellungsräume den Habitus eine bestenfalls geduldeten Eindringlings an. Dazu trägt das Heer von Wächtern und Überwachungskameras bei, die seinen Weg mit Argusaugen verfolgen. Ein Kunstwerk, das einmal Zugang in das Museum gefunden hat, kann noch so brutalen, obszönen oder einfach nur belanglosen Inhalts sein – es befindet sich in einem Schutzraum und wird von seinen Wächtern, wie an Vaters oder Mutters Statt, vehement gegen etwaige Übergriffe des Besuchers verteidigt werden. Das Kunstwerk bildet um sich eine Zone der Undurchdringlichkeit, deren Verletzung als Frevel geahndet wird. Dies ist notwendig, weil das Kunstwerk einen Anspruch auf Dauerhaftigkeit erhebt und in Wahrheit ein Gebilde aus Stoff, Farbe, Stein oder Holz ist, ein fragiles und gleichzeitig unersetzliches Unikat.

Doch in der Regel belästigt der Besucher das Kunstwerk ebensowenig wie dieses ihn. Denn der Betrachter ist bereits einer kulturellen Prägung unterzogen worden, die es ihm verbietet, ein Kunstwerk als unmittelbare Attacke auf seine Wahrnehmung zu empfinden. Unter der Autorität stilistischer Klassifizierung und historischer Zuordnung, vor allem jedoch unter dem Diktat einer meist vagen Vorstellung von Kostbarkeit, werden die Qualen mittelalterlicher Märtyrer, die Vergewaltigungen antiker Nymphen und die Kopulationen zeitgenössischer Künstlerstars nicht als Wirklichkeit, sondern als Metapher betrachtet. Sie stehen für eine gedanklich abstrakte Welt, die den wenigsten Besuchern vertraut ist, deren Existenz sie jedoch nicht anzweifeln. Den kindlich ahnungslosen Betrachter, der seine Gefühle im Affekt und naiv artikuliert, gibt es nicht. Der Besucher kennt die Verbindlichkeiten und ordnet sich ihnen unter, in einem, wenn auch manchmal mühseligen Akt der Konzentration und Aufnahmebereitschaft.

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Hildesheim 2021