DENKMASCHINE
Ein Museum ist eine Bühne der großen Monologe und inszenierten Aktionen. Jedes der hier
ausgestellten Kunstwerke beansprucht für sich, die Welt zu repräsentieren, in ihren großartigsten
wie in ihren erbärmlichsten Erscheinungen. Das künstlerische Produkt, als in sich abgeschlossene
Mitteilung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, offeriert sich dem Betrachter und verlangt seine
uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Das Museum, früher eine Bildungsanstalt, heute häufig als ein
Bestandteil der Eventkultur angesehen, konserviert, ordnet und zeigt Objekte, die sich im Laufe der Jahrhunderte
bis in unsere Gegenwart hinein als wertvoll erwiesen haben. Der »Kunstanspruch« des Kunstwerks
läßt sich ästhetisch, soziologisch und philosophisch begründen, doch er wird nicht von ihm
selbst erhoben, sondern wird ihm zugewiesen, mit jeder Generation wieder neu.
Klaus Dierßens fotografische Bestandsaufnahme Kunstsitz handelt nur indirekt von der Institution »Museum«
und von der Institution »Kunstwerk« als aufeinander verweisende und einander bedingende Größen. Innerhalb
dieses Machtverhältnisses bildet der Kunstsitz ein Zeichen, das zu beiden in Beziehung tritt, jedoch im Grunde ein
isoliertes, auch mobiles Dasein führt, als pragmatisches, funktional gebundenes Objekt. Klaus Dierßens aufwendige
Recherchen, die in einer repräsentativen Auswahl europäischer Museen stattfanden, zeugen von einer geradezu luxuriösen
Ignoranz des vermeintlich Wesentlichen. Er, der professionelle Museumsbesucher, der von weither angereiste Kunstkenner und
Kunstvermittler, wendet den Blick ab vom Gegenstand des öffentlichen Interesses und richtet das Objektiv seiner Kamera auf
einen Ausschnitt von Raum, der nichts anderes enthält als rudimentäre Verweise auf den Ort des Geschehens, in dessen
Zentrum der Kunstsitz steht. Ihm nähert er sich aus dem Blickwinkel des Besuchers, dessen Wahrnehmung sich wie zufällig
auf etwas lenkt, das er nicht erwartet hat und das ihn nun mit seiner Anwesenheit überrascht. Da der Kunstsitz meist in
leichter Aufsicht zu sehen ist, so als könnte er auf seine Bequemlichkeit und Stabilität hin gemustert werden, wirkt er
anziehend und doch auf eigenartige Weise entrückt. Die erhöhte Kamera erweckt den Eindruck von Objektivität, erzeugt
jedoch auch das beklemmende Gefühl, dass wir mit etwas konfrontiert werden, dessen Bedeutung sich uns nicht erschließt, weil
sie außerhalb der zu handhabenden Nützlichkeit des Gegenstands zu suchen ist. Das banale Objekt »Sitz« erfährt
eine Wertsteigerung, ohne im eigentlichen Sinne von der Aura seines Standortes zu profitieren, sondern allein durch seine Polarität,
seine Fremdheit zu diesem Ort. Da der Kunstsitz sich nicht in die Zusammenhänge von Wohnen und Möblierung, von Funktion
und Gestaltung des alltäglichen Lebens einbinden läßt, bleibt er ein Torso, ein Rückverweis in eine andere, dem
musealen Raum völlig entzogene Welt. Als Eindringling aus einer fremden Galaxis entfaltet er ein stummes, duldsames Eigenleben, eine
nur auf sich selbst bezogene Wirklichkeit im undurchsichtigen Gefüge der angeschnittenen Raumecken und Fußbodensegmente, der
Raster von Fenster- und Türrahmungen und des Gitterwerks von Heizkörpern und Treppenaufgängen. Innerhalb dieser nur
angedeuteten Vermutungen von Raum und Ordnung, gelingt es Klaus Dierßen, dem Kunstsitz einerseits eine klar konturierte
Präsenz zu verleihen und ihn doch in der Ungewißheit zu belassen, dass er etwas für den Betrachter Unsichtbares, doch
entscheidend Wichtiges enthalten könnte. Das Augenmerk, durch die Harmonie und Präzision des Bildausschnitts unwillkürlich
geschärft, wird aus der Flüchtigkeit des Wahrnehmungsmomentes präpariert und
Klaus Dierßen
Hildesheim 2021