Dieselben Proportionen wie Dein eigenes Leben
Kooperationen zwischen künstlerischen Fotografen sind selten. Die Fotografie ist eine Arbeit,
die man alleine ausübt. Trotzdem gibt es Beispiele der gemeinsamen Tätigkeit an einem Thema, von
Teamarbeiten, die erfolgreich sind: Denkt man an Hilla und Bernd Becher, die seit Ende der 50er Jahre bei einem
in der Geschichte der Fotografie einzigartigen systematischen Dokumentationsprojekt anonymer Industriearchitektur
zusammenarbeiten oder an das Berliner Fotografenpaar Gabriele und Helmut Nothhelfer, die vor allem in den 70er und
80er Jahren gemeinsam situative Porträts herstellten, dann sind die Arbeiten der beiden genannten Partnerschaften
– und es gibt wesentlich mehr: Fischli und Weiss, Clegg und Guttmann, Starn Twins, Gilbert und George –
neben der künstlerischen Qualität vor allem wegen der Tatsache der Koproduktion und der daraus resultierenden
Rollenverteilung interessant. Denn die Partner müssen vor der praktischen Arbeit gemeinsame Kriterien ihes
Zusammenwirkens entwickeln. Am Anfang steht die Konzeptfindung, die Themenwahl, ihre inhaltliche Festlegung, aus
der die formale Umsetzung entsteht. So muß geklärt werden, welche fotografische Technik die angemessene
ist; die Wahl des Kameraformats, der Brennweite des Objektivs, der Filmart, des Aufnahmelichtes, die Festlegung des
Standpunktes und der Moment des Auslösens sowie der anschließenden Ausarbeitung in der Dunkelkammer. Aus
diesen Elementen setzt sich die praktische Arbeit zusammen. Vor ihr müssen die Fotografen den Charakter ihrer
Kooperation definieren: Entwickeln sie zusammen die Schritte zur Bildfindung oder ist der eine für den
theoretischen Teil, der andere für dessen technische Verwirklichung zuständig? Entwickelt sich so eine
gemeinsame künstlerische Handschrift? Das würde bedeuten, daß deren Urheber auf einen individuell
ausgeprägten Teil ihrer Autorenschaft verzichten würden. Eine erstaunliche Tatsache, denn gerade die
Eigenschaft der eindeutigen Zuordnung eines Werkes zum Künstler macht ein wesentliches Moment seiner ideellen
und kommerziellen Wertschätzung aus.
Mit diesem Phänomen der Aufgabe eines Aspektes des individuellen künstlerischen Ausdrucks haben sich auch
die Fotografen Klaus Dierßen und Ditmar Schädel in der Folge der Durchführung ihres neuen Buch- und
Ausstellungsprojekts: »Angesehen« auseinandergesetzt und stellten sich die Frage: »Zwei Fotografen bearbeiten
ein gemeinsam abgesprochenes Konzept – gibt es fotografische Unterschiede oder werden sie durch Fotografie und Konzept
ununterscheidbar? « Beide Fotografen arbeiten nicht zum ersten Mal zusammen an einem Thema – jeder fotografiert
für sich. Ihre Bilder werden anschließend gemeinsam präsentiert und publiziert. Bei dieser vereinten
Vorstellung kommt es zu einer Auflösung der eindeutig identifizierbaren künstlerischen Handschrift – die
Bilder lassen sich nicht mehr eindeutig einem der beiden Fotografen zuordnen, die ähnliche Resultate liefern. Ihre
Bilder werden so visuelle Belege ihres in Kooperation entstandenen Konzepts. Die Fotografen stellen sich auf Kosten ihrer
künstlerischen Individualität vollkommen in den Dienst der Sache. In »Angesehen« werden uns in ihrem
beruflichen Umfeld zwanzig Menschen, die in der ehemaligen DDR gelebt haben und nach der Wiedervereinigung 1990 dort geblieben
sind, fünf Jahre nach diesem historischen Prozeß in Wort und Bild vorgestellt.
Die fotografische Technik ist bewußt einfach. Klaus Dierßen und Ditmar Schädel benutzen dasselbe Kameraformat
in Kombination mit einem Objektiv, das einen normalen Bildwinkel liefert. Durch die Wahl hochempfindlichen Filmmaterials sind die
Fotografen in die Lage versetzt, mit dem vorhandenen Licht zu arbeiten und die jeweilige Lichtsituation und die damit verbundene
Atmosphäre in ihre Bilder zu integrieren. Die Anwendung von Schwarzweißfilm läßt darauf schließen,
daß sich die Fotografen der wahrnehmungspsychologisch begründeten Aussage bei der Rezeption dieser Art von Aufnahmen
bewußt sind: Nach Ansicht des amerikanischen Filmtheoretikers Stanley Cavell verweist das in schwarzweiß gehaltene
Bild im Film und in der Fotografie immer auf die Abgeschlossenheit einer Handlung. Der dokumentarische Charakter der Arbeit wird
so betont. Die Anwendung der Schwarzweißfotografie in »Angesehen« steht so auch symbolisch für die Darstellung
der Auswirkungen einer inzwischen historischen Situation. Sie wirkt authentisch, nachvollziehbar und wahrheitsgetreu – alles
Gründe, warum der deutsche Regisseur Wim Wenders gerne in schwarzweiß dreht: »Schwarzweiß ist einfach
realistischer.«
Klaus Dierßen und Ditmar Schädel vollziehen ihre Wirklichkeitsbeschreibung subtil. In einer Anordnung von
je sechs Aufnahmen, die in der Regel jeweils aus einem Porträt und fünf Innenansichten bestehen, werden uns insgesamt
zwanzig Menschen an ihren Arbeitsplätzen präsentiert und kommen in Selbstaussagen zu Wort. Die einzelnen »Porträts«
setzen sich meistens aus einem Bild der besuchten Person, aus einer Totale, die den Arbeitsraum in einer Übersicht zeigt und
stillebenartigen Detailaufnahmen, die für die räumliche oder berufliche Situation typisch sind, zusammen. Dieses relativ
offene Konzept erlaubt es den Fotografen, spontan auf die vorgefundene Situation einzugehen. Die von ihnen abgebildeten Menschen
haben vor 1990 in der DDR gelebt und schildern in dem die Fotografien begleitenden Text die durch den Prozess der Wiedervereinigung
ausgelösten persönlichen und beruflichen Veränderungen, ihre Erfahrungen, Hoffnungen und Enttäuschungen, ihre
Siege und Niederlagen.
Dem eigentlich journalistischen Thema nähern sich Klaus Dierßen und Ditmar Schädel ohne den Fehler zu begehen, sich
der gängigen Bildklischees aktueller Berichterstattung zu bedienen. Ihre Darstellung des Alltags ist unspektakulär. Sie
benutzen die Menschen nicht als Material für vordergründige Bildeffekte, sondern berichten in ihren Aufnahmen über
sie. Die Durchführung ihres Projektes unterscheidet sich in mehreren Punkten von journalistischen Auftragsarbeiten: So wurde
das Thema von den Fotografen frei gewählt. Bei der Umsetzung ihres Selbstauftrages sind sie an keine formalen oder inhaltlichen
Vorgaben gebunden, sondern folgen den ihnen selbst auferlegten Regeln. Die Bilder sind Produkte ihrer internen Absprache. Außerdem
unterliegen die Fotografen, die hauptberuflich als Dozenten arbeiten, bei ihrer Arbeit keiner zeitlichen Begrenzung. Sie nehmen sich
soviel Zeit wie notwendig, um behutsam Kontakte zu den Menschen aufzubauen, die sie in ihr Projekt integrieren möchten.
Diese qualitätsfördernde Langsamkeit der Produktion schafft Vertrauen bei den Personen, die bei dieser Art des Vorgehens
zu Koproduzenten werden. Je mehr Zeit sich die Fotografen nehmen, desto offener werden die Menschen, die merken, daß ihnen
ihre Würde gelassen wird. Bestimmt spielt bei dieser Annäherung auch eine Rolle, daß sie informiert sind über
den späteren Gebrauch ihrer Bilder und ihrer Selbstaussagen. Sie wissen, in welchem Kontext sie erscheinen, denn die Fotografen
haben ihnen ihre Bildauswahl und ihre Texte vorgelegt und ihre Zustimmung eingeholt.
Die Menschen werden so endgültig zu gleichberechtigten Partnern, die in ihrem jeweiligen persönlichen und historischen
Schicksal ernst genommen und respektiert werden. Sie merken, daß sie für diese Fotografen keine Objekte sind, sondern
daß ihnen alle Möglichkeiten zur Selbstdarstellung als Subjekte gegeben und sie als Individuen verstanden werden. In
der persönlich begründeten Auswahl der ostdeutschen Menschen durch die westdeutschen Fotografen liegt eine Qualität
des Projekts, dessen Ziel die Alltagsbeschreibung ist. Nicht das Repräsentative soll gezeigt werden – ein Ansatz, der
ohnehin hätte scheitern müssen –, sondern persönliche Sichten auf die Welt, im Dialog mit ihr entstanden, bilden
den Charakter der Arbeit. Dieser Ansatz, in der Auseinandersetzung mit dem scheinbar Allgemeingültigen das Individuelle zu formulieren,
lässt sich am besten mit einem Satz des englischen Philosophen John Berger beschreiben: »Das Feld vor dem Du stehst, scheint
dieselben Proportionen zu haben wie Dein eigenes Leben.« Diese Fähigkeit der Übertragbarkeit auf den Rezipienten entsteht
durch die Arbeitsweise der beiden Fotografen: Bilder und Texte sind für sich gesehen und gelesen eigenständig, ergänzen
sich aber zu einem Ganzen, zu einem offenen Angebot an den Betrachter und Leser, der keine Gebrauchsanweisung für das Verständnis
und die Lektüre der künstlerischen Arbeit braucht. Die Fotografen Klaus Dierßen und Ditmar Schädel interpretieren
nicht, sondern präsentieren. Sie bieten damit ihren Partnern bei der Entstehung der Fotografien, den Menschen die Basis zur
Selbstdarstellung und den Betrachtern der Bilder die Grundlage zur Selbsterkenntnis. Ihr mit den Mitteln der Fotografie und der
Gesprächsführung hergestelltes und vor allem soziologisches Projekt ist ein erfolgreiches Beispiel mündlicher und
visueller Geschichtsschreibung.
Thomas Weski
Kurator für Fotografie und Medien am Sprengel Museum Hannover
Kurator für Fotografie und Medien am Sprengel Museum Hannover