Klaus Dierßen
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Walter Messing
Damen- und Herrenfrisiersalon

Den Jahrgang habe ich vergessen, das ist schon lange her: 1925. Ich bin 1940 aus der Schule gekommen, gut zwei Jahre gelernt ... Im Kriegsjahr mußten wir ja nur Herrenfriseur machen, weil ja keine anderen da waren. Vom Damenfach haben wir fast gar nichts mitbekommen. 1943 im Februar zum Militär, 1948 im September aus Ägypten nach Hause. Da ich aus westlicher Gefangenschaft kam, hatte man Angst vor den Russen, das war klar ...

Ich durfte nicht in meinem Beruf arbeiten. Friseur war nicht gefragt. Es wurde vielmehr bestätigt: Wismar Bergbau und Landwirtschaft. Jetzt hatten sie mich zum Wismut-Bergbau verpflichtet. Dafür mußte eine Untersuchung stattfinden. Ich brachte damals 'Malaria Tropica' aus der Gefangenschaft mit. Habe heute noch Kreislaufprobleme. Man hat mich bei der Wismut sechzig Prozent untauglich geschrieben ...

Ich war ja damals schon mittlerweile zweiundzwanzig Jahre. Da habe ich zwei Jahre Volonteur gemacht, um das Damenfach zu beherrschen ... 1952 habe ich noch die Meisterprüfung abgelegt. Damals haben wir in der Meisterschule eine Perücke gemacht. Wir mußten auf den Holzkopf ein Band aufmontieren, da wurde die Gaze draufgespannt und dann gingen die harten Knüpfarbeiten los. Der Scheitel wurde temperiert. Oben, da haben wir drinnen in Spiegelschrift reinarbeiten dürfen. 'WM 1952', das habe ich da reingesetzt. '52' können Sie noch ganz gut erkennen und das 'WM' auch ...

Dann habe ich 1955 den Laden hier gefunden. Der Friseurladen ist hier schon seit 1911. Der Sohn meines Vorgängers war Anfang der fünfziger Jahre abgehauen, nach drüben. Er hat das richtig gemacht – damals. Dazu habe ich – ehrlich gesagt – keinen Mut gehabt. Mut wohl, aber ... Ich hab gesagt: 'Jetzt hauste ab, wo du die Meisterprüfung gemacht hast.' Dann auch die Eltern: 'Junge bleib hier, Junge bleib hier ...' Und nachher war es so um sechzig ja vorbei ...

1955 hatte man in Sangerhausen die erste "PGH Friseure", Produktgenossenschaft Handel gegründet, die allererste in der DDR, wodurch ich Probleme mit der Gewerbegenehmigung hatte. Damals hieß es: Ja, der Rat des Kreises ... Davon kamen viele hier rein zu mir, und wenn man einen unter der Schere hatte, der ein bißchen Einfluß hatte, dann bekam man das schon besser hin. Dann hatte man ein bißchen Kontakt zu den Männern. Und wenn sie auch eine gute Stellung hatten, kriegte man sich so durchgeschleust. Und das muß ich ehrlich sagen, das hat mich hier die ganze Zeit so gerettet. Denn ich bin ja nicht in die PGH reingegangen. Wenn ich dort Mitglied geworden wäre, hätte ich sofort eine Wohnung wahlweise im Neubaugebiet oder in der Altstadt bekommen können. Aber das war nicht meine Variante ... Ich wollte nie rein. Ich war der einzige Selbständige in ganz Sangerhausen. Ich war der letzte Friseur hier ...

Ich habe einen harten Stand gehabt, im Vierteljahr dreimal Preisprüfung. Für Einemarkfünfunddreißig Haareschneiden und dann auch noch Preisprüfung machen. Sie hätten ja fünf Pfennige zuviel nehmen können, nicht? Das war hart. Da kamen sie zur Preisprüfung. Setzten sich hin, ließen sich bedienen – auch bei den Frauen. Jede zehn Pfennig, jeder Haarlack und Haarglanz je fünfzehn Pfennig, mehr durfte nicht genommen werden. Eine Flachlocke kostete ohne Waschen Einemarkachtzig. Flachlocke, das wird aufgedreht, unter die Haube gesetzt und ausgekämmt, also ohne Waschen. Da kamen fünfzehn Pfennig Lack und Glanz und noch Waschen dazu für eine Mark. Und wenn es Spezialwäsche war, dann Einemarkfünfundzwanzig. Das waren die Preise, für die gearbeitet werden mußte. Ich konnte es nicht fertigkriegen, daß ich sagte: Jetzt gehst Du in die Genossenschaft rein. Ich wäre vielleicht Geschäftsleiter geworden von so einem Laden hier ...

Ich muß Ihnen sagen, man hat sich gefreut. Wie man hörte, in Ungarn, durch die Tschechei ... – hat man sich gefreut, daß sie nicht abgeknallt worden sind ...

Als Genscher auf einmal sagte, daß wir ausreisen dürften, könnte ich heute noch heulen. Ich habe das gesehen, was sich hier so abspielte. Daß die mal nachgeben würden, da habe ich keine Hoffnung gehabt ... Nun ja, und das Weitergehen, das wäre nichts geworden, gar nichts mehr geworden. Es war nur richtig so ... Ich kannte auch einen hier oben beim Rat des Kreises. Das war ein Mann, der kam hier immer – Abteilungsleiter – nach siebzehn Uhr zum Haareschneiden ... Der Mann war ganz genau in seinem Leben. Und der kam einmal mittags um vierzehn Uhr zum Haareschneiden. Nanu, sagte ich, Sie kommen jetzt hier an? Wie kommt's denn? Na ja, sagt er, ich komme von der Leipziger Messe. Wissen Sie, wenn man auf der Messe sieht, was es alles gibt und was alles möglich ist und was bei uns gar nicht läuft ... Was, dachte ich, was sagt der dir jetzt? Das ist doch ein Zeichen, daß die Kollegen da oben auch langsam die Schnauze voll haben. Das war so ein gutes Jahr vor der Wende. Bei uns geht gar nichts, sagt er. Gucke da, dacht' ich, jetzt werden die Herrschaften auch langsam munter ...

Als ich 1955 anfing, hatte auch die Friseur-PGH bereits angefangen. Ein paar Wochen vor mir. Die haben in den fünfunddreißig Jahren einen Reservefond gehabt. Ein Drittel der Einnahmen von denen kam auf den Reservefond und war eingefroren. Da hat sich dann mittlerweile in der ganzen Produktionsgenossenschaft ein Fond gebildet von 'zig Millionen Mark. Die haben sie als Ostmark mit in die Währungsunion genommen und haben dann natürlich 'zig Millionen Mark gehabt und wieder einen Startschuß vorne gegenüber denen, die – wie wir – privat ausgehalten haben. Auf der ganzen DDR-Ebene ist das mit der Produktionsgenossenschaft so gewesen. Welche Berufsgruppe das war, das spielt keine Rolle, die haben alle diesen Reservefond gehabt.

Nun, ich bin schon lange Mitglied der LDPD, das war die Lieberaldemokratische Partei Deutschlands. Ich habe acht Halbtagskräfte gehabt bis zur Wende. Ich habe auch immer einen vollen Laden gehabt. Das will ich nicht abstreiten. Mit meiner Parteimitgliedschaft habe ich keine Probleme gehabt. Im Gegenteil. Ich muß sagen, die hat mich ein bißchen geschützt. Als Mitglied von der LDPD steht man nicht abseits. Wenn ich parteilos gewesen wär, gings schlechter ...

Als ich 1940 in die Lehre kam, da wurden die Haare gesammelt. Die Schnitthaare wurden gesammelt für Isolierungen zum Beispiel bei U-Booten und Schiffen. Nach dem Kriege wurden die Haare gesammelt für die Plaste- und die Teppichindustrie. Da kam immer einer von Leipzig, der sammelte. Der holte die Säcke hier weg, brachte die auf den Bahnhof hoch und schickte sie nach Leipzig. Dort wurden die Haare ausgeharkt. Unter anderem waren da so Fremdstoffe wie etwa Gummis drin, so ganz dünne Gummis, die beim Haarlegen rissen, die die Frauen meist nicht gefunden hatten. Wenn die dann in den Teppich hineingekommen sind, ist in dem Teppich ein Loch gewesen. Fürs Damenfach haben wir fürs Kilo dreiundzwanzig Pfennige gekriegt? Die letzten sieben bis acht Jahre kann man wohl sagen, wurden die Haare noch intensiver gesammelt. Die wurden ausgeführt nach Westdeutschland. Dort hat man die Grundstoffe Kalk, Stickstoff und Schwefel , was die Hauptprodukte unseres Haares mit sind, rausgezogen und hat sie angeblich mit zur Medizin verwendet. Ich hab' damit immer so meinen Spaß gemacht und habe gesagt: 'Wenn Ihr von den Haaren her diese Herztropfen kriegt..., und Ihr kriegt Tropfen von den Schnitthaaren nicht der alten Mädchen, sondern von den jungen Mädchen, die wirken dann besser.' ...

Meine Frau ist eine gebürtige Westberlinerin und da haben die gedacht: Jetzt hauen sie ab. Da haben sie uns hart beobachtet, die Brüder. Es war so ein furchtbares Gefühl, weil wir es immer wußten. Da hat jemand zu mir gesagt: 'Passen Sie mal auf, da steht jeden Abend immer eine Person gegenüber Ihrem Fenster.' Da haben sie ein Gefühl, kann ich Ihnen sagen. Am liebsten sofort abhauen, alles stehen und liegen lassen. Ich hab's dann aber nicht getan, meinen Eltern zuliebe.

Man kann's nicht fassen, daß man sich jetzt frei bewegen kann, und daß ich keine Angst haben brauche, daß hier einer von der Stasi heruml6auml;uft. Da kam abends um halb sechs einmal einer rein – seriöser Herr, Schlips, hatt ein gutes Auftreten und fragte, ob ich nach haare schneiden könnte. Ein gutes Jahr habe ich ihn bedient, ohne zu wissen, daß er Chef vom Staatssicherheitsdienst hier war. Der hat mich nicht einmal was gefragt ...

Politisch gesehen habe ich überhaupt versucht, mich nicht anzulegen. ICh habe nur dies versucht, daß ich mich und meine Familie so verhältnismäßig gurchgeschlängelt habe ...

 
Hildesheim 2021