Klaus Dierßen
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Das offene Gegenüber – Einsichten in das Leben anderer

Mit dem vorliegenden Buch »Angesehen« veröffentlicht der Kunstverein Hildesheim die Ergebnisse eines mehrjährigen fotografischen Projekts von Klaus Dierßen und Ditmar Schädel. Zwanzig Menschen werden in ihrer Lebensumgebung vorgestellt und durch fotografische Bilder und ergänzende Selbstaussagen in Form von Interviews dem Betrachter näher gebracht. Die Gespräche sind unkommentiert und nur wenig redigiert wiedergegeben, um ein hohes Maß an Authentizität zu wahren. Die Auswahl dieser Menschen erfolgte im Laufe der vergangenen Jahre. Im Arbeitsprozess entstand ein enger Kontakt zu ihnen. Es handelt sich um Personen, die nicht unbedingt im Licht der Öffentlichkeit stehen, die also auf den ersten Blick unspektakulär sind. Diese Menschen könnten in jeder Nachbarschaft vorkommen, sind aber in ihrer individuellen Art wieder unverwechselbare Mitmenschen.

Sechs Fotografien und ein Text stellen jede Person und die jeweilige Umgebung vor, in der sie arbeiten und leben. So entstanden sorgfältig ausgearbeitete Studien bis hin zum fotografischen Stillleben. Die Ergebnisse zeigen jedoch, dass die Fotoautoren nicht bewusst inszeniert haben. Vielmehr wird das ästhetische Konzept der beiden Fotografen deutlich, das sich nicht auf schnelle und spektakuläre, eher dem reportierenden Tagesgeschäft zugeordnete Klischees stützt, sondern ihre Suche dokumentiert. Ein vorläufiges Ergebnis zeigt sich in überlegt ausgearbeiteten Bildern. Voraussetzung für diese Art des Vorgehens ist ein Vertrauensverhältnis zu den abgebildeten Menschen. Die Fotografien, besonders die Aufnahmen der Personen selbst, zeugen von der gewachsenen Beziehung der Fotografen zu den Menschen in Ostdeutschland. Das offene Gegenüber ermöglicht intensive Einsichten in das Leben anderer. Bild und Text sind in einem Wechselverhältnis gedacht. Im Gespräch entwickeln sich Fragen und Probleme, die durchaus an den Bildern nachzuvollziehen sind. Das genaue Betrachten der Bilder wiederum führt zu einer anderen Lesart der Texte und das Lesen der Texte führt zu einer neuen Betrachtung der Bilder zurück. So gesehen ist dieses Projekt als fotografischer Bild-Essay zweier Autorenfotografen zu verstehen. In atmosphärisch dichten Aufnahmen der ›angesehenen‹ Menschen und ihrer Umgebung sowie ihren Texten werden Einschätzung der jeweiligen Situation, Zurechtkommen mit der Veränderung der letzten Jahre, aktuelle Sichtweise sowie Wünsche, Hoffnungen und Perspektiven angesprochen. Fotografie und Text haben hier die Absicht, bei den Betrachtern ein einfühlendes Nachdenken zu evozieren, aufmerksames Hinschauen und Zuhören zu erreichen.

Die Bilder zeugen auch von der Andersartigkeit, zeugen von dem Fremden, das immer noch in den Äußerungen der Menschen, in sichtbaren Gegebenheiten erkennbar wird. Das Aufspüren dieses Andersartigen, der spezifischen Gebrochenheit der Situation ›drüben‹, die Suche nach Verlorenem oder dem drohenden Vergessenwerden, ist in den Aufnahmen wieder zu finden. Mit Hilfe der eher distanzierenden Schwarz-Weiß-Fotografie wird eine Annäherung versucht, die nicht bloßstellendem Voyeurismus oder schönfärbender Nostalgie frönt. Spürbar wird eher eine distanzierte Melancholie, ein offener Blick für die Arbeits- und Lebenssituationen der Menschen im Osten Deutschlands. Das offene Verhältnis von vorgefundener Situation und Abbild, von Westblick und Ostrealität, von Dokumentation und Stellungnahme wirken einer einseitigen Wahrnehmung der Fotografien entgegen. Diese Offenheit scheint gerade fünf Jahre nach der Vereinigung beider deutscher Staaten besonders geeignet, das gegenseitige Kennen lernen anzuregen und zu fördern. In diesem Sinne ist die Arbeit der beiden Fotografen ein Vorhaben mit ›langem Atem‹ und als ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der jeweils anderen Situation zu verstehen. Es ist der Versuch, den aufgenommenen Dialog fortzuführen und zu vertiefen.

Das vorliegende Buch steht in Zusammenhang mit dem Projekt »Danach und Danach« von Klaus Dierßen und Ditmar Schädel, das als Buch 1993 ebenfalls im Rasch Verlag erschienen ist. Es wäre zu wünschen, daß »Angesehen« durch seine Gestaltung anspricht, immer wieder zu erneutem Betrachten herausfordert und zum kritischen Nachdenken anregt. Mit ihrem neuen Buch haben Klaus Dierßen und Ditmar Schädel einen Zugang zu den Menschen gefunden, vor allem auch ihr Vertrauen. Ohne dieses Vertrauen hätten ihre Partner wohl auch nicht so stetig mitgearbeitet und schließlich die Bilder und Texte für die Veröffentlichung autorisiert. Hierfür ist ihnen sehr herzlich Dank zu sagen.

Ohne die engagierte Mitarbeit des Verlags, ohne die bereitwillige Unterstützung durch die Förderer, wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Dafür dankt der Herausgeber sehr herzlich.

Dieter Lüttge
Vorsitzender des Kunstvereins Hildesheim
Professor für Psychologie an der Universität Hildesheim

 
Hildesheim 2021