Jan Berg
»... wie eine rosenrothe taffentne Gardine vor einem Gitter allmälig durch theilweises Ausbleichen das Gitter darstellen wird«
(Textausschnitt)
... Die Fotografien von Klaus Dierßen und Ditmar Schädel sind von der naiven Referenz- und Authentielegende gleichweit entfernt wie von der
postmodernen Annahme einer globalen Referenzlosigkeit und Simulationsbeliebigkeit. Sie haben beides vor Augen, rücken es dem Betrachter
als Verstehensmöglichkeiten in den Blick, verweigern aber zugleich jede eindeutige Orientierung. Mit geduldiger Insistenz gehen sie immer
wieder zum selben Ort in der ehemaligen DDR, fotografieren immer wieder von gleicher Position aus, mit dem gleichen Kamerawinkel, halten
so scheinbar arglos objektivistisch fest, was sich getan hat in der Zwischenzeit oder was gleichgeblieben ist. Dies detailverliebte
Augenzeugenversprechen an den Betrachter ist zugleich die Darstellung der Objektivismuslegende, nicht ihre Denunziation. Die streng gerahmten
Bilder der kleinen Läden sind dann wie Monstranzen: sie werden nicht mehr geglaubt, aber fast ehrfürchtig in Ehren gehalten. Nicht
vordergründig, sondern tatsächlich im Vordergrund stehen Zeichen der veränderten DDR. In strenger Gegenständlichkeit dokumentieren diese
Fotografien Brandmauern, Firmenschilder, Geschäftsauslagen. Der Betrachter kann sie studieren, wie man die früheste Fotografie studiert
haben mag, in Details sich verlierend, die als Funde entzücken. Gleichzeitig aber geht es – in ironischer Brechung – um den
Mythos des Dokumentarismus als der eigentlichen Tiefenschicht der Realitätsdarstellung. Die Genauigkeit, strenge Sorgfalt, ja Solidarität,
mit der technisch-ästhetisch zu Werke gegangen wird, ist die Voraussetzung dieser Ironie. Ohne dieses Strenge endeten diese Bilder aus der
Provinz, diese Zeichen des Verfalls wie der Ordentlichkeit, in billigen Pointen, wären sie Bildrätsel ohne Geheimnis, kuriose Objekte für
einen Betrachter, der allein wegen seiner Betrachterhaltung sich überlegen fühlen könnte. Das Pflaster der Straße, des Vorplatzes, der
Fassaden, die Läden, die Auslagen, die Gardinen, die neuen und die alten Schilder, die Westanleihe der Reklame, alles ist so klar lesbar
wie erklärungsbedürftig. Zwar gibt es interne Witzigkeiten, gefundene Zeichenwitze, etwa die Westreklameverheißung, die von der grau
bröckelnden Fassade gleichsam dementiert wird, ober die Schilder und Aufschriften, die, liest man sie nur zusammen, einander unfreiwillig
kommentieren. Doch dies sind nur die offensichtlichen semantischen Funde, nur erste Lockspeise, erster Gang für den Rezipienten. Noch ganz
beschäftigt mit dem Entdecken von Einzelheiten, banalen Details, Kuriosa, Liebenswertem, heruntergekommenem und ehrenfest Aufrechtem,
entdeckt der Betrachter sich selbst als Voyeur. Gerade daß diese provinziellen Orte menschenleer sind, wird ihm zum Problem. Dort, wo ein
Betrachter am ehesten eine psychologisierende Erklärung, moralische Rationalisierung erwarten könnte, in den Gesichtern, Haltungen und
Gesten der Menschen, verweigert sich die Fotografie. Andererseits sind Spuren von sozialer Realität zu finden. Wer in dieser Welt auch
nur mit den Augen sich umtut, wird, er mag sich noch so sehr altruistische Gefühle einreden, zum voyeuristischen Eindringling.
Ohne Not macht er ein Leben zu seinem Objekt, das ihm hilflos ausgeliefert ist, nur weil es ihm unter die Augen kommt. Die überlegenen
Betrachter dieser Fotografien werden ihrer Überlegenheit nicht froh, sondern verlegen, ein altes Problem des Dokumentarismus, dem
auch die Selbstlosigkeit bzw. der freundlichste Altruismus der Fotografen nie beikommt und dem auch die verständnissinnigsten Absichten
des Betrachters den Widerspruch nicht nehmen können. Die Kunstlizenz muß ihn in Schutz nehmen, und sie ist für ihn doch kaum mehr als
das Dunkel für den Voyeur, der sich das Leben anderer als Bild zurechtlegt und als Phantasie einverleibt.
Die Unterwerfung von sozialem Leben als Sinnbild und Kunstsymbol, die Möglichkeit von nostalgischen Gefühlen oder denunziativem Humor –
für alles gibt es in diesen Bildern Anlässe, mit allem bleibt der Betrachter allein. Dies, obwohl die fotografische Symbolisierung deutlich
zweite Symbolisierung ist. Die Ladenfassaden, Straßensituationen, die Aufschriften, Reklamen, Alarmanlagen, alles und jedes ist als ästhetisch
vorcodiertes Zeichen erkennbar, wie antiquiert, wie abgeschabt und hinfällig oder wie protzig-billig diese Zeichen dem Betrachter auch
entgegenkommen. Das Serielle der Fotografien nimmt das Serielle dieser Objekte ernst, indem es die jeweiligen Veränderungen in der
Erscheinungsweise dieser Provinzwelt als bloße Veränderung dokumentiert. Was und wieviel sich verändert hat, wenn ein neues Schild,
eine neue Farbe, ein neuer Gartenzaun erscheint, bleibt ebenso offen wie die Frage, ob sich überhaupt Wesentliches verändert hat an diesen
Schauplätzen. Die Form dieser Fotografien aber verlegt der Denunziation den Weg so gut wie der klebrigen Nostalgie oder der verständnissinnigen
Soziallektüre. Sie sichert einen Ernst, in dem die verschiedensten Bedeutungsmöglichkeiten aufscheinen, dem Betrachter zum Bewußtsein kommen.
Klaus Dierßen
Hildesheim 2021