Klaus Dierßen
Home / Passage Projekte / Angesehen (Inhalt) / Seite 132 von 147
 

Heide Freygang
Konditorei – Kaffeehaus Kolditz

Ich heiße Heide Freygang, geb. Föste, geboren 1947 in Sangerhausen und dort auch wohnhaft. Ich habe zwölf Jahre die Schule besucht und Abitur gemacht. Anschließend – weil es nicht anders möglich war – ein Jahr Konditor lernen dürfen und habe dann 1972 meine Meisterprüfung abgelegt. Das Gymnasium zu besuchen ging nicht so einfach. Man mußte die Leistung haben und wenn man noch dazu aus so einem Elternhaus kam ... Abitur wollte ich aber machen. An sich mußte man dann auch studieren wollen. Aber das hatte ich mir eigentlich nicht vorgenommen. Da habe ich eben das Studium erfunden. Damals habe ich gesagt: Ich will Landwirtschaft studieren! Das war gerade das, wo sie alle drauf scharf waren. Landwirtschaft mußte studiert werden. Meine Mutter war ja nicht besonders dafür. Sie sagte, das sei für ein Mädchen zu lang. Aber na ja, ich wollte das eben und da habe ich mir das ertrotzt ...

Also studieren wollte ich nicht. Interessiert hat mich irgendwo die Gastronomie. Und da gab es in Leipzig diese Fachschule. Dort war aber Vorbedingung, man mußte, wenn man Abitur gemacht hatte, trotz allem irgendwie Kellner oder Koch gelernt haben. Und das wollte ich nicht. Da fiel die Entscheidung: Dann werde ich Konditor und übernehme das Geschäft. Acht-Klassenschüler lernten drei Jahre, Zehn-Klassenschüler lernten zwei Jahre und Abiturienten nur ein Jahr. Es ist ein Irrsinn, ein Handwerk nur ein Jahr lernen zu lassen. Es fand sich natürlich niemand, der jemandem eine einjährige Ausbildung gewährte. Der damalige Obermeister war ein sehr großer Idealist. Er hat gesagt: Na, dann nehme ich sie auch so. Ich habe dort die Lehre dann berufsschulmäßig beendet. Das war nicht der Akt, aber das Praktische war die Schwierigkeit. So eine einjährige Lehrzeit kann man nur machen, wenn man zu Hause einen Betrieb hat und weiß, nach der Ausbildung gehe ich in den Betrieb zurück und kann dann in Ruhe lernen. Woanders hinzugehen hing schon immer damit zusammen, daß wir ja Unterkunft brauchten. Kein Handwerker gewährte mehr Unterkunft. Eine Anstellung hätte man ohne weiteres in einer fremden Stadt finden können, aber keine Wohnung. Also deshalb ist das auch zu DDR-Zeiten so ein bißchen unterblieben, daß wir rauskonnten. Wo sollte man also bleiben? Es war eben so, daß ich aus dem Betrieb stammte. Mein Obermeister sagte: Ich muß diesen Betrieb erhalten, sonst geht er verloren. Und dann bin ich eben direkt nach Hause ...

Der Ursprung dieser ganzen Familie ist ein Kunstschlossermeister Neumann. Der hatte damals im vorigen Jahrhundert schon eine Schlosserei mit, ich glaube, einhundert Beschäftigten. Dessen Tochter heiratete wiederum einen Schlossermeister und das ist Edmund Kolditz, mein Urgroßvater, gewesen. Zur Hochzeit erhielt sie hier ein Haus vom Vater. Und 1886 hatte hier vorne ein Konditormeister Kirchner eine Konditorei mit Restaurant, wie das so üblich war. Der hörte aber nach zwei Jahren auf. Warum weiß ich nicht. Da hat dieser Edmund Kolditz gesagt: Das können wir ja so weiter machen. Das ging ja damals, auch wie jetzt wieder. Man konnte sich einen Meister halten, dann konnte man im fremden Gewerbe ein Geschäft haben. So hat er das angefangen und 1909 das Kaffee in der jetzigen Größe gebaut. Mein Opa, Bruno Kolditz, ist dann 1890 geboren worden. Er hat seine Meisterprüfung sehr jung gemacht. Ich glaube schon mit zweiundzwanzig Jahren, was für damalige Zeiten sehr zeitig war. 1920 hat er geheiratet und das Geschäft übernommen. Aber auch erst mal – das geht dann hier in dem Haus immer so – einen Teil. Der eine nimmt das Kaffee, der andere nimmt die Konditorei. Das ernährt ja normalerweise zwei Familien gut ... Mein Opa hat den Laden gebaut und ihn auch so eingerichtet. Er hat das Geschäft bis 1964 gehabt. Aber auch schon wieder geteilt, denn meine Eltern hatten ja schon das Kaffee und mein Opa nach wie vor die Konditorei. Mein Opa hatte sie bis zu seinem Tode. Und nach 1964 machte seine Tochter Liselotte, meine Mutter das wieder weiter. Mein Vater, Heinz Föste, hatte Bankkaufmann und nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft Konditor gelernt. Er war dort ein Kämpfertyp, wo mein Opa ganz einfach kapituliert hätte. Er war sehr angesehen, auch bei den Kommunisten, weil sie wußten, also der, wenn der ja sagt, dann ist es ja ...

Wir waren keine DDR-typische Familie. Wir hatten schon generell unsere Probleme mit dem Staat. Wegen dieses Geschäftes. Das ist eben zu groß. Ein kleiner Handwerker, der seine Sattlerei betreibt, der fiel nicht so auf. Aber dieser Klotz hier an der Ecke, der war zu sehr ein Dorn im Auge.

Die Flucht nach vorn war eigentlich, daß mein Opa und auch mein Vater in die LDPD, die Liberaldemokratische Partei Deutschlands gingen. Die waren keine Mitglieder, die was sagten, sie waren eben irgendwo drin und damit war Ruhe. Damit waren sie für die SED gestorben. Selbst wenn die jetzt aus der LDPD ausgetreten wären – die SED hätte sie ja nie wieder genommen. Das muß man bei vielen so sehen. Man ging eben in diese LDPD und dann waren die anderen still ...

Ich bin an dem Tag oder bei dieser Geschichte eigentlich nur einmal mitgegangen. Wir hatten damals montags noch zu. Da ging es um das Thema: Also die Partei und der Staat muß raus aus den Betrieben, die darf es nicht mehr im Betrieb geben. Daß sich was ändern mußte, war klar. Wir hätten alle hier überhaupt nicht mehr lange mitgemacht. Ich sage grundsätzlich, unsere Betriebe waren zu Museen herangereift. Wir kriegten keine neuen Maschinen, weil überhaupt kein Produktionsprogramm für Kleinbetriebe – was Maschinen anging – vorhanden war. Alles wurde immer wieder geflickt. So war die Situation und deshalb also: Für mich war die Wende schon gut. Die habe ich hauptsächlich vor dem Fernseher intensiv miterlebt. Ich möchte auch in keinem Fall irgendwas rückgängig machen ...

Na ja, die Preise – die waren ja mehr oder weniger vorgegeben. Die Tasse Kaffee kostete, ich glaube von 1958 bis 1990, vierundachtzig Pfennige. Es gab Preisstufen, und wir waren eben in der Preisklasse zwei, und da kostete die Tasse Kaffee soviel. Alles andere mußten sie eben praktisch über die Menge bringen. Die Backstube mußte entsprechend kalkulieren und produzieren, denn es wurden ja Kontrollen vorgenommen. Dann mußten wir von jedem Gebäckstück, was die gerne hätten, zehn Stück auf die Waage tun. Wir mußten einmal die Gewichtskalkulation und dann die entsprechende Preiskalkulation zum Stimmen bringen. Und genau das war der Punkt, wo wir dann immer alle vier oder acht Wochen zur freiwilligen Selbstkontrolle auf die Waage gelegt haben. Sagen wir mal, die haben drei Gebäckstücke überprüft und hätten bei allen dreien was gefunden. Dann war schon Knatsch. Eins, na ja gut, das wär' ja noch gegangen. Sie wären nach vier Wochen wiedergekommen, und es wäre wieder so gegangen, Na, das wär ja ein Knatsch geworden. Das konnten sie sich nicht leisten. Das ging einfach nicht. Sie mußten immer korrekt, ach was, überkorrekt mußten sie sein. Die haben ja nur drauf gewartet, daß sie einem was nachweisen können ...

Das Publikum ist hier seit Generationen im Grunde genommen das gleiche. Bei uns ist das Harzvorland, also sehr stark ländliches Publikum. Ich sag' immer, da kommt die Oma mit dem Enkel und plötzlich ist der Enkel selbst die Oma und bringt ihr Enkel schon wieder mit. Wenn mein Opa durch den Harz wanderte, der grüßte überall. Es war alles Kundschaft. Und wenn ich heute durch den Harz fahre, geht's mir genauso. Und das ist eben diese Lage am Bahnhof. Man fuhr früher in die Stadt und kaufte ein. Und zum Schluß, dann gönnte man sich was Gutes. Da ging man noch ins Kaffee Kolditz und trank eine Tasse Kaffee ...

Die Zukunft sehe ich irgendwie so: Wir müssen uns erst mal ein paar Jahre sehr bescheiden anstellen. Die nächste Generation ist da. Mein jüngerer Sohn hat drei Jahre in Leipzig Konditor gelernt und arbeitet im Moment in Hannover in einer Kakaostube. Er lebt bei meiner Tante. Im Sommer muß er Zivildienst antreten. Na ja, und dann wird er auf die Meisterprüfung losgeschickt. Er hat schon als Fünfjähriger gesagt: "Ich will das Geschäft übernehmen." Unser Großer, der wird jetzt fertig mit dem Betriebswirtschaftsstudium. Der sagt: "Ich werd' Euch dann so nebenbei managen." Also weitergehen soll es in jedem Falle. Es soll aber auch rgendwo im Stile weitergehen. Es ist nicht an so etwas gedacht, wie alle Möbel raus oder so. So ist es nicht gedacht. Es kommt aber auch immer wieder etwas dazwischen, was man nicht eingeplant hat. So haben wir 'ne Entlüftungsanlage im Kaffee, die steht auch so ungefähr seit 1930. Da können Sie eigentlich nur jeden Tag beten, hoffentlich hält 'se noch recht lange durch ...

 
Hildesheim 2021