Klaus Dierßen
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Cornelia Dettke
Fotografin in der Baumannshöhle

Wenn die Führungsgruppe in meine Abteilung in der Höhle kommt, dann sage ich immer folgenden Spruch: »Erinnerungsfotos. Bitte stellen Sie sich hier auf dem zweiten Treppenabsatz auf. So, diese Fotos in Postkartengröße kosten zwei Mark und neunzig und eine Mark für's Porto. Drei verschiedene Bildgrößen liegen draußen aus, daneben finden Sie Briefumschläge, dort müßten Sie dann Ihre Anschrift aufschreiben. «

1992 habe ich hier in Rübeland als Fotografin angefangen. Vorher haben das mein Onkel Rudi und seine Frau gemacht. Er ist hier mit zwanzig Jahren in den Berg gegangen und mit sechzig wieder raus, ich glaube, das war fast wie zur Probe liegen. Ich konnte mir erst auch nicht vorstellen, dass ich das heute noch gern machen würde, eigentlich sollte ja nur die Saison überbrückt werden ...

Anfangs war es ganz schön belastend. Mit dieser Arbeitszeit, auch am Wochenende, Familie, Haus und Garten unter einen Hut zu bringen, aber ich denke, ich habe das jetzt ganz gut in den Griff bekommen. Die Jungs sind groß und die Arbeit macht mir Spaß. Ich gehe halt morgens in den Berg und komme abends erst wieder raus, ist so eine Art Fledermausleben ...

1960 bauten meine Eltern für uns und die Großeltern ein schönes Doppelhaus im Harz. Wir hatten damals noch Schafe, Gänse, eine Kuh und Acker. Es wurde noch selbst Butter gemacht mit Zentrifuge und Butterfass, Schafwolle gewaschen, gekämmt und auf dem Spinnrad gesponnen, Gänse gerupft und Betten gestopft. Es war eine schöne Zeit ...

Gelernt habe ich Zerspanungsfacharbeiterin in den ›Harzer Werken‹. Den Betrieb gibt es übrigens heute noch, was man von vielen anderen Betrieben nicht sagen kann. Und es werden immer noch Gußradiatoren für Heizungen und Buchsen für verschiedene Fahrzeuge hergestellt. Nach der Lehre habe ich geheiratet und meine beiden Jungs wurden geboren. Wir bekamen eine schöne Drei-Raum-Neubauwohnung, ich konnte mich aber trotzdem nicht an so einen Kasten gewöhnen. Daneben waren gleich eine Kinderkrippe und ein Kindergarten, so daß ich nach dem Babyjahr gleich wieder arbeiten konnte, das war ganz normal so.

Später arbeitete ich in einer Jugendherberge. Wir hatten sehr viele Gäste, es war ja ein ständiges An- und Abreisen.

Kurz vor der Wende kamen auch öfter Reisebusse aus dem Westen, da haben sich manche tatsächlich für fünfzig Ostmark einhundert Brötchen gekauft oder festgestellt, daß man sich auch mit Ostbier besaufen kann. Manche sagten aber auch: Ihr armen Zonis, ihr müsstet nur ein bisschen von dem haben, was es bei uns gibt ...

›Rüber‹ sind wir natürlich auch gleich nachdem die Grenze offen war, der absolute Wahnsinn. Kilometerlange Autoschlangen, stundenlang im Stau und dann die Glitzerwelt ...

Vom Begrüßungsgeld haben wir uns das erste Mal gar nichts gekauft, das war einfach alles zuviel, fast unglaublich. Bei Erich gab es zu Weihnachten Bananen, die man sich erstanden hat, nachdem man sich in eine lange Schlange von Menschen gereiht hatte und ich habe mich über bunte Bettwäsche, unter dem Ladentisch, wahnsinnig gefreut. Heute gibt es fast alles, wenn man das Geld dafür hat ...

Dass die Mauer weg ist, finde ich schon in Ordnung, aber irgendwie war das Leben bei ›Erich‹ ruhiger. Da mußte man keine Türen verschließen und es gab diese Zukunftsangst nicht. Aber der Mensch gewöhnt sich wohl an fast alles ...

 
Hildesheim 2021