Klaus Dierßen
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Uwe Barz
Tankstellenbesitzer

Bis zur zehnten Klasse habe ich das normale DDR-Pensum auf der polytechnischen Oberschule absolviert. Bin zur Lehre nach Berlin als Tankwart, bin voll ausgebildeter Tankwart. So was gibt's gar nicht mehr. Ich bin 1958 geboren und wollte ursprünglich Fotograf werden. Da war eigentlich alles klar, aber es gab in dem ganzen Kreis Quedlinburg nur zwei Lehrstellen und die gingen an Mädchen. Und da war ich natürlich raus aus dem Rennen. Mein Vater ist seit den fünfziger Jahren Tankwart. Da wußte ich im großen und ganzen was mir blüht als Tankwart und habe mir gesagt, das ist das geringste Übel. Bevor du irgendwo am Fließband stehst, gehste lieber als Tankwart. Hast dein Auskommen, kommst unter Leute und hast eben deinen Frieden.

In Berlin war die Ausbildung von Tankwarten, ganz DDR weit. Das war 'ne richtige Schule, zwei Jahre richtig intensiv Lehrgang. Wir sind zum Teil als KfZ-Schlosser ausgebildet worden. Dann waren wir Säulentechniker, – wir konnten Säulen auseinander und zusammenbauen. Man war dann Facharbeiter für Betankungstechnik. Zu DDR-Zeiten war das ein ziemlich dämlicher Beruf – Tankwart. Von Berlin denn gleich wieder nach Quedlinburg, Armee-Zeit natürlich drinne – wohl oder übel. Wäre normalerweise Zivildienstleistender geworden, aber es ging damals nicht. Dann bin ich 1975 hierher nach Quedlinburg zurückgegangen, zur letzten in dieser Region eigentlich privaten Inter-Tankstelle, wo bundesdeutsche Bürger tanken durften. Ich wurde gleich als Schichtleiter eingestellt und da habe ich natürlich gesagt: Das ist die interessante Schiene. Und dieses Ding führe ich seit 1993 selber als Besitzer. Die Tankstelle ist seit 1928 schon immer in Privatbesitz.

Es gab nicht mehr viele solche privaten Tankstellen. Hier im Bezirk Halle waren es, glaube ich, bloß drei oder vier. Und dann schon Privatbesitz – das war schon erstaunlich. So was hat man ja kaum gehabt. Privatleute, die Intertank hatten ... Das war schon nicht schlecht ...

Normalerweise war es lieferungsmäßig schlecht. Die letzten Jahre war es wirklich schlimm. So viele Leerstände. Wir haben Bücher geführt darüber, wieviel Leerstände wir hatten, wieviele Stunden wir keinen Sprit hatten. Der 'Ossi' wußte Bescheid. Also abends war meistens der Sprit alle. Die Umsatzzahlen waren ja auch enorm. Wenn das heute eine Tankstelle hätte ... Das ist Wahnsinn. Da kommen die gar nicht mehr hin. Wir haben am Tag manchmal vierzig- bis fünfzigtausend Liter Sprit umgesetzt gehabt – für so'ne kleine Bude hier. Wir haben schwer gepuckelt. Wir haben Vierzehn Stunden-Schichten gezogen hier ...

Der Besitzer der Tankstelle ist dann in Rente gegangen und hat sie kurz vor der Wende an einen Bekannten von seinem Sohn übergeben. Und der hat natürlich hier wahnsinnig gut gelebt. Er wurde – hopp – ins Steuerrecht der Bundesrepublik übernommen und hat Umsätze gehabt ... Wir haben mit unserem DDR-Lohn weitergearbeitet. Wir waren da eigentlich sehr naiv. Das quält mich auch heute noch. Wir waren dermaßen naiv und haben zuerst gedacht, er ist wirklich schlecht dran. Und jetzt, nachdem ich die Bude hier übernommen habe, kriege ich erst mal mit, was er wirklich verdient hat. Was für 'ne goldene Nase sich die Leute hier verdient haben. Der hat jetzt dort hinten die neue Tankstelle. Diese Tankstelle wollte er kaputtmachen. Er hat ein halbes Jahr vorher angefangen, die Kunden hier zu vergrämen, indem er unhöflich war. Wir haben versucht, die Kunden zu halten, und er hat sie angefratzt. Hat sie vollgemeckert, was sie denn eigentlich von ihm wollen, hatte keine Ware da. Wenn leer war, war eben leer ... Hat dann gar nicht angerufen bei der Firma: Ich brauche mal Sprit.

Das war, als die Neue schon geplant war. Er wollte die Kunden eigentlich zu sich rüberziehen. Und dann sollte das Ding hier geschlossen werden. Also die Firma hat uns nichts gesagt gehabt. Die haben gesagt, das Ding wird zugemacht zum 31. Mai. Da haben wir gesagt: Das könnt Ihr doch nicht machen. Ich sagte: Das Ding läuft doch. Von den Umsatzzahlen, die wir hier haben, damit sind wir eigentlich noch sehr gut im Rennen. Da habe ich dann mit ihm wie mit Engelszungen gesprochen. Sie haben sich das dann alles noch mal angeguckt und haben 'OK' gesagt. Ich sagte noch: Ich hab' versucht, für euch den neuen Standort klarzumachen. Ich habe gesagt, daß ich auch die neue Tankstelle betreiben möchte. Also, ich mache hier weiter und versuche dann die Neue. Und da haben sie dann gesagt: OK, machen wir. Bloß leider ist dann dort in die neue Tankstelle ein anderer reingekommen ...

Ich nehme stark an, er hatte erstmal bessere Connections und zweitens – er hatte eben besseres Geld. Das ist nun erst mal klar. Woher soll ich was haben. Ich meine, mit dem bißchen Geld, was man hier verdient hat ... Da habe ich festgestellt, daß ich jeden Monat eben plus minus null im großen und ganzen abgeschlossen habe. Meine zwei Angestellten haben ihr Geld gekriegt und ich hab' 'ne Nase gemacht. Ich hab' mir aber auch immer gesagt: Du mußt jetzt hier durch, weil du die neue Tankstelle haben willst. Wenn du jetzt hier zumachst, dann bist du raus aus dem Rennen. Und jetzt ist es eben amtlich. Der hat die, und ich kann nichts mehr machen. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan. Das Geschäft ist hart geworden. Und was eben auch ein Problem ist, ich meine – wir sind nun ganz einfach Ossis – wir gehen ganz anders mental ran an die Sachen, versuchen die sozialen Aspekte immer noch ein bißchen im Vordergrund zu halten. Es wurde mir mehrmals gesagt: Also du mußt deine Leute entlassen. Und denn läuft das Ding auch relativ rund. Da habe ich gesagt: Es mag ja sein. Das kann ich auch nachvollziehen. Aber irgendwo tut das hier drinne weh. Mit den Leuten bin ich eigentlich groß geworden. Aber solange die Bude das abschmeißt, muß ich die da durchziehen. Da kann ich nicht sagen: Es ist Feierabend. Dann ging's eben doch los. Im Oktober habe ich den ersten entlassen müssen, es ging nicht anders. Und nun sind alle beide raus. Heute arbeiten im Tankstellenbereich nur noch Teilzeitkräfte. Da gibt es sowas wie Facharbeit nicht mehr. Das können die auch gar nicht mehr bezahlen ...

Am 31.März, nächste Woche Freitag um zwölf Uhr mache ich den letzten. Dann räum' ich das Ding hier, abbauen, entsorgen. Mal sehen. Das wurmt einen, wenn man zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre im Geschäft, immer in der gleichen Firma ist. Und dann arbeitslos - alle Mann. Das ist eben das Problem. Das ist zum Kotzen ...

Ja, es dampfte. Es war deutlich zu spüren in der letzten Kommunalwahl im Frühjahr vor der Wende, daß irgendwas in der Luft liegt. Ich meine, die Verweigerung der Leute überhaupt zur Wahl zu gehen, war enorm. Und die Leute waren auch bereit, sozusagen ein Risiko einzugehen. Soviele Leute wie diesmal in den Wahllokalen selbst stehengeblieben sind, um zu sehen, was ausgezählt wird ... Die denn auch massiv drauf gedrungen haben, drinne zu bleiben. Und dann kam eben Ungarn, da war's zu spüren, daß es jetzt knackt. Das konnte die DDR nicht ab.

Ende Oktober 1989 gab's die erste große Demo in Quedlinburg. Da waren wir hier – die Tankstelle – mit Dreh- und Angelpunkt. Wir haben sozusagen die Organisation, Logistik mitgemacht. Wir haben die ganzen Flugblätter gehabt hier, und die gingen dann sofort an die Leute, die hier tankten, dann gingen die sofort ab in den Harz, das war natürlich toll. Das hat Spaß gemacht, an der Stelle. In was für'm Risiko man eigentlich auch geschwebt hat! Es hätte ja innerhalb weniger Sekunden vorbei sein können. Wir haben selbst Stasi-Leuten, die wir kannten, das Zeugs reingeschmissen.

Man war gebrannt, mich hat man nicht nur einmal wegen so'ner Sache gehabt. In Berlin war ich einmal wegen der Biermann-Sache am Kippen gewesen. Also notiert war ich – wie man so schön sagt – als Problemfall. Während der Fahne auffällig gewesen. Wird man gemustert, dann kommt so'ne Kommission und die fragt dich dann eben, was du so für Interessen hast. Ob Grenzer oder sowas. Dann hat man aber sofort gesagt: Also Grenze fällt aus. Das gibt's nicht. Wenn jetzt einer sagt, er mußte zur Grenze, ist es nicht wahr. Das ist amtlich. Ich hab's durch ... Wenn 'se erkannt haben, mit dem läuft das nicht, denn wurdeste du auch von dem Staat automatisch geschnitten. Dann haben sie dich zu den Akten gelegt ...

Das ging dann als Vermerk in die Kaderakten. Die lagen in den Betrieben, in der Personalabteilung. Betriebsgruppenleiter, Stasi und so was konnten da überall dran. Es gab ja nach der Wende dann noch so'ne Bereinigung, da durfte jeder in seine Kader-Akte sehen und sich sozusagen bereinigen. Das war natürlich 'ne geniale Sache. Besser konnte man keine Akten vernichten ...

Euphorisch, traumhaft – dieses Gefühl zur Wende. Die Menschen waren so intensiv damit beschäftigt, was Neues zu machen. Sie waren alle wirklich hochmotiviert. Wenn Helmut da nicht gekommen wär', die hätten ihre DDR selbst gemacht hier. Aber mit 'nem wirklichen menschlichen Anblick. Die Leute hätten auch verzichtet. Die waren alle bereit, die haben gesagt, die Karre ist im Dreck, dieses Land ist runtergewirtschaftet, das läuft nicht mehr. Wir wissen es selbst – aber wir wollen endlich unsere Ruhe haben, wollen unsere Freiheit haben, wir wollen mal reisen können, wollen mal zur Tante nach drüben und sowas. Die haben wirklich die unmöglichsten Sachen noch zum Zuge gebracht. Die Produktion aufrechterhalten mit den unmöglichsten Sachen. Das ist nicht das Problem gewesen ...

Das Problem war in dem Moment da, wo die zehn Punkte kamen, die Vereinigungspunkte. Da hatte jeder Angst, den Zug zu verpassen. Das war ein Trauma, daß der große Bruder von drüben kommt, der Knete hat. Es ging dann eigentlich darum, uns so schnell wie möglich einzuverleiben. Und das Potential der Bürger, mit ihrem Schatz, den sie eigentlich hatten, bewußt umzugehen, sofort stillzulegen. Und das ist gelungen. Die hundert Mark waren deutlich, die haben gewirkt. Da waren die Leute nur noch damit beschäftigt, nach drüben zu fahren, die hundert Mark abzukassieren – wenn es geht zweimal. Also, das war übelst. Im November ging das los. Wir haben ja hier nur noch gepuckelt. Die standen morgens um dreie hier vor der Tankstelle. Die sind gar nicht mehr weggefahren. Die haben die Autos hier abgestellt, um morgens Sprit zu kriegen. Wir haben gar nicht den Sprit mehr rangekriegt. Das war Wahnsinn! Der Tankwagen hat abgelassen. Wie der losgefahren ist, war der Sprit wieder verkauft. Die Leute sind ja nicht mehr zur Arbeit gegangen. Ja, daß das so mit einem Mal kippt, das hätte ich nicht für möglich gehalten. Innerhalb von vierzehn Tagen war das gekippt. Wir waren da in den Kirchen drinne. Die Leute haben dort ihren Frust runtergeredet. Die haben Arbeitsgruppen gebildet. Ich hab' das alles aufgehoben. Da gab's Leute, die haben 'ne Zeitung gemacht, "Quedlinburger Wochenblatt". Das Kuratorium hat sich in der Zeit gebildet gehabt. Da war das alles noch klar. Und mit einmal kippte das um. Da kam nur noch Deutschland: Ein Vaterland. Dann gingen die Fahnen hoch – und dann war's aus. Dann war auch mit dem größten Teil der Leute nicht mehr zu reden. Die haben nur noch die schnelle Mark gesehen. Und das waren nachher auch eigentlich die Fälle, die als erste draußen waren ...

Ich meine, der Druck war da. Die Leute wollten reisen, die haben vierzig Jahre, wie sie meinten, eingezäunt gelebt. Aber die Leute sollten eigentlich begreifen, daß sie gar nicht so schlecht – in Anführungsstrichen – gelebt haben. Bestimmte Probleme wurden von ihnen ferngehalten. Und jetzt müssen sie sich um alles kümmern. Das ist natürlich schwierig. Wenn man krank gewesen ist, dann ist man zum Arzt gegangen und hat seinen Krankenschein abgeholt und ist wieder nach Hause gegangen. Heute muß man dafür auch bezahlen, löhnen. Heute kostet sowas alles Geld. Und jetzt muß man das auch noch verdienen. Wenn man hier keine Miete bezahlt hat, wen hat's gejuckt. Das hat doch keinen gestört. Kam ja aus dem großen Topf. Hier im Neubaugebiet gab's zu DDR-Zeiten schon drei Millionen Mietschulden ...

 
Hildesheim 2021