Klaus Dierßen
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Jürgen Weichardt

Die Wirklichkeit als Ausschnitt der Wahrheit
Das graphische Werk von Klaus Dierßen

Die Wirklichkeit erfahren zu können, ist eine Fähigkeit, die den Menschen der gehobenen Industriegesellschaft mehr und mehr verloren zu gehen scheint, je mehr Automaten und Computer, kurz mediale Surrogate, von Umraum und Naturwelt ablenken. Der Zeichner und Graphiker Klaus Dierßen belegt als einer jener Künstler, die sich in der Welt der Kunst wegen noch umschauen, welch ein Verlust die Aufgabe der Beziehung zur Wirklichkeit bedeutet, und wie verfügbar die Menschen werden, geben sie sich fast ausschließlich der Welt des Scheins hin. Dabei ist es gegenwärtig durchaus nicht modisch, in der Darstellung realistisch zu sein: Klaus Dierßen schwimmt nicht auf der Welle aktueller Kunst, sondern dagegen, und steht als Zeuge, dass dem Realismus als Ausdruck der Erfassung von Wirklichkeit, die in Ausschnitten Wahrheit ist, des modischen Trends nicht bedarf, um aktuell vor dem Verlust des Sinnes für Realitäten zu warnen.

Die Beschäftigung mit kleinen Ausschnitten der Natur, mit den Fassaden verfallener alter Häuser, mit den offenen und verbauten Zugängen, mit den verlassenen Innenräumen, in denen sich Licht und Leere ungehindert ausbreiten können – alles Motive, die Klaus Dierßen in der Vergangenheit zu Papier gebracht hat, ist heilsam und ernüchternd gegenüber dem Krieg der Sterne und den Computer-Eskapaden: Die Wahrheit ist, dass die Welt entweder an einer großen Katastrophe, die zu verhindern der Politik noch möglich sein kann, oder am alltäglichen Verfall stirbt. Ihn hat Klaus Dierßen in einfacher Deutlichkeit, doch nicht ohne Pointierung und kompositionelle überlegung sichtbar gemacht.

Der 1949 geborene Künstler hat zunächst in Hildesheim Pädagogik studiert, zahlreiche Studienreisen unternommen und dabei immer gezeichnet oder mit dem Fotoapparat festgehalten, was ihn bewegt hat, später dann das Studium der Grafik bei Malte Sartorius in Braunschweig aufgenommen und 1982 abgeschlossen. Das Bemühen um die realistische Darstellung der Wirklichkeit hat hier zwar eine Förderung erfahren, muß aber in der Absicht und im Wollen Klaus Dierßens längst vorhanden gewesen sein. Tatsächlich zeigen Arbeiten vor 1976, in den frühen Serigraphien wie in ersten Radierungen, Maschinendetails und Architekturen, die von der Realität abgeleitet sind. Doch die Studienreisen, besonders nach Paris und Amsterdam, haben den Sinn für eine kritische Auseinandersetzung mit dem vorangebracht, was vor allem die Menschen an zerstörerischer Kraft ihrer Umwelt antun.

"Landschaft geschafft" (1976) ist eine Serigraphie, in der die Rodung um des Fortschritts willen angeprangert wird; "Verbranntes Tor" (1977) zeigt in der gleichen Technik die offenen Wunden eines zweckentfremdeten Gegenstandes, dem der Nutzen abgesprochen worden ist. Gegen Ende der siebziger Jahre hat Klaus Dierßen die Radierung als Medium benutzt, um mit dieser der Zeichnung stärker angenährten Technik die Details seiner Motive genauer zu erfassen. Jetzt sind es alleinstehende Gebäude, Stellwerke, die Reste einer übertechnisierten Welt, oder Abbruchhäuser in Paris, also keineswegs "am Rande der Zivilisation", wie Interpreten zu Dierßens Graphik einmal meinten. Selbst die Bilder des Trödels, der alten bäuerlichen Geräte oder der Fabrikfassaden, der Eisenbahnunterführungen und der Mauern, die diese verschließen, geben Auskunft über die Vielfalt im Alltäglichen, das dem Verfallen ausgesetzt ist.

Es liegt da nahe, dass Klaus Dierßen bei seinen Eindrücken auch Momente gefunden hat, in denen das überlieferte noch intakt ist, wie die Radierung "Zugang" (1981) belegt. Sie verweist auf einen sich damals allmählich ausbreitenden zweiten Themenkreis, der heute im Werk von Dierßen fast gleichberechtigt zu sein scheint: Die Darstellung der zwar kargen, aber dennoch nicht unmittelbar gefährdeten Natur, der stillen Landschaften mit ihren undramatischen Baumreihen und ihren Flurgrenzen, die der Künstler schließlich in einer Mappe mit dem Titel "Landschaft schaffen" (1985) gesammelt hat. Mit diesem Titel beziet er sich direkt auf den schon genannten Titel einer älteren Graphik "Landschaft geschafft" (1976). Sichtbar wird damit nicht nur die Neigung zu einer positiven Kritik, sondern auch die enge Beziehung der einzelnen Arbeiten zueinander. Das Thema bleibt für den Künstler Klaus Dierßen ein Impetus; doch die Stellungnahme kann sich ändern.

Allerdings hatte der Graphiker schon in den frühen siebziger Jahren eine didaktische Blattfolge zur St. Michaeliskirche in Hildesheim geschaffen, die keinen kritischen Anspruch erhebt, aber über die Technik der Serigraphie informieren will. Solche Blicke in die Werkstatt des Künstlers hat Dierßen immer wieder gestattet; zuletzt auch im positiv kritischen Sinn in der Darstellung des Akzisehauses in Osnabrück (anlässlich seiner Ausstellung im Kulturgeschichtlichen Museum) und der Vorhänge auf dem Markusplatz in Venedig. Neues deutet sich in diesen Beispielen an, das freilich nicht von der Wiedergabe der Realität fortführt, wohl aber dieser durch Kombinationen überraschende Ansichten verleiht. Dem Blatt "Per San Marco" wird das Lineament des Bodens mit seiner künstlich geometrischen Ordnung beigegeben, wobei die Komposition auf eine perspektivisch gewohnte Darstellung verzichtet. Der Fußboden ist flächig und wie von den unbedingt realistischen Vorhängen weggeklappt wiedergegeben worden. Zwei Kompositionsprinzipien in einem Bild, die gewiß noch keinen unwirklich-surrealen Ansatz ergeben, die aber das besondere Interesse des Künstlers an der Komposition belegen.

Bei realistischer Kunst wird die Kraft der kompositionellen Gestaltung durch den Künstler oft unterschätzt. Klaus Dierßens Graphik ist aber ein Beleg dafür, das es diesem Künstler auch auf Komposition, auch auf die Darstellung bestimmter realer Erscheinungen in bewusst stofflicher Wiedergabe angekommen ist. Die Differenzierung der Textilien bei "Per San Marco" oder der Blasen und Krusten beim "Verbrannten Tor" oder der Brüchigkeit der Steine in vielen anderen Motiven ist ein besonderer Reiz und das Gelingen eine Quelle der Freude. Weil ihm auch diese Stofflichkeit wichtig ist, die das absolute Beherrschen der grafischen Techniken voraussetzt, kann Klaus Dierßen auch getrost den Fotoapparat benutzen, um seine Motive einzufangen und zu bewahren. Er folgt damit nur einem Brauch, der über hundert Jahre alt ist. Entscheidend ist, was er auswählt und wie er das Ausgewählte in Szene setzt. Er bevorzugt die Ausschnitthaftigkeit, lässt seine Motive häufig vor dem Bildrand enden und arrangiert sie so, dass die oft zentral um eine Mittelachse aufgebaut sind.

Auch wo diese Kompositionsweise nicht so offensichtlich ist, trägt sie doch die Züge, die von einem solchen Aufbau ausgehen: Ruhe, Ausgewogenheit, Stille. Das hat dazu geführt, Dierßens Bilder als Stilleben zu bezeichnen – im Sinne des alten "nature morte", doch wird dabei der von den Menschen ausgelöste Verfallsvorgang, den der Künstler in seinen meisten Motiven festgehalten hat, nicht zum Ausdruck gebracht. Immerhin versteht dieser Graphiker, aus seinen Motiven Stimmungen herauszuarbeiten, die der "nature morte"-Empfindung mit ihrer stillen Trauer durchaus entspricht. Dazu trägt auch die sensible Differenzierung des Grau bei, das eigentlich keine extremen Töne kennt, was der kompositionellen Strenge eben entspricht.

Dierßens Graphiken sind von großer innerer Disziplin, die ohne bewusst herbeigeführte eigene Handschriftlichkeit doch einen eigenen Stil-Charakter erzeugt hat. Die innerliche Einheit der Radierungen bewirkt, das selbst in den Inhalten, die eine ungebrochene Gegenständlichkeit sichtbar machen, der Hauch des Gefährdens Einzug hält – nicht nur aus dem Kontext der anderen Graphiken, sondern auch aus der atemlosen Stille, die in diesen Bildern herrscht.

Den Menschen, die Zeit finden, seine Graphiken anzuschauen, will Klaus Dierßen Bestätigung geben – oder, wenn es ein muß, die Augen öffnen – für ihr Verhältnis zur Wirklichkeit. Gewiß ist diese nicht die ganze Wahrheit, und durch die betonte Ausschnitthaftigkeit macht Klaus Dierßen auch immer darauf aufmerksam, dass es weitergehende Wahrheiten gibt als die vor Augen stehende Realität. Aber an ihr exemplifiziert der Künstler nicht nur das unausweichliche "Stirb und Werde", sondern das forcierte, von Menschen aus Uneinsichtigkeit oder falscher Fortschrittsgläubigkeit vorangetriebene bewusste Vergehen und Zerstören. Dierßens Bilder sind Klage und Aufforderung, diesem entgegenzuarbeiten.

In: Zeitschrift "Graphische Kunst", Heft 1-1986, Memmingen
Jürgen Weichardt, Kunstkritiker, Oldenburg

 
Hildesheim 2021