Klaus Dierßen
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An den Wegrändern der Zivilisation

Es ist für mich als Medienwissenschaftler, der sich mit der Analyse, Funktion und Wirkungsweise der elektronischen audio-visuellen Medien zu befassen hat, besonders reizvoll, mich mit Grafiken von Klaus Dierßen zu beschäftigen. Der Reiz liegt darin, der Pflichtübung zu entkommen, unaufhörlich vor den unzweifelhaften Gefahren der "alten" und "neuen" Massenmedien zu warnen, deren erhöhte Programmangebote lediglich das Risiko steigern, dass wir nicht allein im materiellen, sondern im geistigen Sinne am unaufhaltsamen Konsumismus ersticken.

Die konfektionierte und standardisierte Medienrealität bietet mit einer penetranten Vorliebe zwei Grundstimmungen an, die uns unserer eigenen Kreativität berauben und uns bevormunden sollen. Die eine Grundstimmung kreist um den Sog sensationeller Schreckensmeldungen. Dieser alltägliche Katastrophismus erscheint völlig säkularisiert, ohne Rettung und Religion. Die andere Grundstimmung preist die nicht zu übertreffenden Produkte und Segnungen einer rosigen Freizeit- und Industriegesellschaft an, eine "schöne Welt" voller Glück, Harmonie, Vitalität und Unversehrtheit.

Die Bilder von Klaus Dierßen versetzen und als individuelle Formen kultureller Aneignung in eine ganz andere Grundstimmung. Er liebt nicht das optisch Glanzvolle, das Glatte, Grelle und Grauenhaft-Monströse, das der Werbung und dem Verblendungszusammenhang der Bewusstseinsindustrie innewohnt. Vielmehr sucht er Zwischentöne, Zwischenräume und Bruchstellen. Ihn interessiert das Anfällige, Morbide, das Fremdartige und Sonderbare, das meist unbeobachtet an den Wegrändern unserer Zivilisation liegt. Ausgerüstet mit einer minutiösen Beobachtungsgabe sowie intelligenten Sinnen, entdeckt er auf Streifzügen in seine nächste Umgebung und auf Studienfahrten nach Paris, Amsterdam, Wien, Venedig oder in die Toscana überraschende Fundstellen, die oft in den Untertiteln der Blätter topografisch vermerkt werden.

Die Fotografie wird dabei als ein technisches Hilfsmittel genutzt, um "vor Ort" auszuwählen und das "Rohmaterial" im Atelier weiterzuverarbeiten. Im Arbeitszusammenhang gleichwertig wird der Ausdruck in der Grafik gesteigert, die Präzision der Fotografie durch Reduktion und Akzentuierung verändert und somit ihre Sichtweise reflektiert. Die Grafiken Dierßens umfassen eine große Variationsbreite der Hell-Dunkel-Töne. Der Rhythmus der Striche in ihrer Bündelung bietet die Möglichkeit, Formen zu begrenzen, zu füllen sowie aufzulösen und macht die Schraffur zu einem typischen Ausdrucksmittel.

Der Blick fällt auf Objekte und Konstellationen einer zivilisatorischen Umwelt, die im raschen Wechsel der Zeit vom Menschen vernutzt und verbraucht worden ist. Offensichtlich wertlose und triviale Dinge, organische wie unorganische Stoffe, bauliche Relikte und Gewächse werden für Wert befunden, dargestellt zu werden. Sie erschienen unaufdringlich und von einem Schleier des Verborgenen und Rätselhaften überzogen. Signalisiert wird so ein konstanter Verfallsprozess, der die Dinge in ihrer Dekomposition gestaltet. Es sind keine Symbole einer sinnlosen Vernichtung, sondern eines Verfalls, der sich bereits in einem übergang befindet und neue Formen entstehen lässt. Was dargestellt wird, ist nicht aus dem Blickwinkel eines Architekten gesehen. Wohl gibt es den Reiz des Architektonischen, des Konstruktiven und der fest umrissenen Konturen, die die Bilder bestimmen, die sich an den Rändern in ihrer Entgegensetzung aber wieder auflösen. Sie dienen der Gestaltung einer anderen Welt, einer Gegenwelt.

Das explizite Thema und Leitmotiv, das die Arbeiten durchzieht, ist weniger die im Zeichen des technologischen Fortschritts exekutierte Zerstörung der Natur und Zivilisation durch die Hybris des Menschen. Die Bilder, die frei von der romantischen Expressivität eines Kulturverfalls sind und nicht dem Mythos einer schönen Natur huldigen, zeigen in ausbalancierter Form konstruktive und destruktive Kulturkräfte. Die Bildkompositionen befinden sich in einem Spannungsverhältnis zwischen Stabilität und Instabilität, kontemplativer Beschaulichkeit und fragiler Irritation. Architektur und Landschaft stehen in keinem starren Widerspruch, sondern scheinen sich aufeinander zu zubewegen und in einer neuen Synthese zu transferieren.

Viele Blätter lassen sich als "Stillleben" einordnen, weil die Dinge gleichsam magisch in sich selbst zu ruhen beginnen. Der Stillstand und das Paradoxe derartiger Zustände reizt. Kunstgeschichtlich betrachtet ist die enge Tradition der Gattung gesprengt. Die "nature morte" entwickelt eine eigene Dynamik. Als "wiedergeborene" Natur erscheinen Trümmerpflanzen und begrünen das Stillgelegte.

Auffällig ist die Faszination des Ruinenhaften, die immer wieder durchbricht und die Intensität der Darstellung entscheidend prägt. Die Motive lassen sich nicht aus einer Nostalgie oder der Trauer um den Verlust des Alten erklären. Vielmehr wird das Ruinenhafte als lädierter und aufgerissener Raum- und Lebenskörper wahrgenommen, wobei die Ausschnitte vielfach gebrochen sind. Auf einen Blick wird das und das äußere sichtbar. Die gewöhnliche Trennung zwischen gegenseitig abgeschirmter Innenwelt und Außenwelt entfällt. Unbewohnbare Räume und ramponierte Baukörper bilden eine Art Mikrokosmos – eine Widerspiegelung der großen Welt im Kleinen, die Leben und Tod, Werden und Vergehen untrennbar umfasst. Als irritierendes Moment ragt in den Chiffren des Ruinenhaften Vergangenheit in die Gegenwart hinein.

Helmut Kommer

 
Hildesheim 2021