Klaus Dierßen
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Als im vorigen Jahrhundert die Erfindung der Fotografie auf den Plan trat, übernahm sie einerseits Aufgaben, von denen die bildende Kunst sich bereits abzuwenden begann: nämlich die "objektive" Wiedergabe (oder was man dafür hielt) der stofflichen Welt, seit der Renaissance das generelle Anliegen der Kunst. Dabei versuchte sie zunächst, sich an den Bildgesetzen der Malerei orientieren. Fotografie war also nicht, wie manchmal angenommen wurde, eine Konkurrenz, die die Malerei auf andere Wege abgedrängt hätte.

Andererseits ist unbestreitbar, dass es von Anfang an Künstler gab, die sich dafür interessierten, was die Fotografie zusätzlich zu erfassen vermag: nicht nur unbestechlichere Detail-Darstellung, sonder auch das authentische Abbild transitorischer Zustände in ihrer Zeitfolge, also Abläufe von Bewegungen. Sie zeigte sich also als eine Errungenschaft, die an der Erweiterung und Differenzierung unseres Sehens in der präzisen Erfassung der Realität teilnahm, die sich auch in der Kunst anbahnte und die über die Grenzen der perspektivischen Welterfahrung hinausging.

Inzwischen wissen wir, dass auch das "Objektiv" des Fotografien sich sehr subjektiv führen lässt und umgekehrt, dass die subjektive Daseinsdeutung des Künstlers in ihren Erfahrungen von der Objektivwelt durch die Fotografie außerordentlich bereichert wurde. Diese wechselseitige Befruchtung hat die Vehemenz und die Eigengesetzlichkeit in der Entwicklung beider nicht beeinträchtigt.

Eine konsequente und sehr persönliche Synthese des fotografischen Sehens und des bildnerischen Denkens scheint mir im bisherigen Oeuvre von Klaus Dierßen vorzuliegen. Er benutzt die Fotografie und die Druckgrafik als einen Arbeitszusammenhang. Ausschließlich von eigenen Fotos ausgehend benutzt und wählt er sein Fotomotiv bereits unter dem Gesichtspunkt der beabsichtigten grafischen Umsetzung und thematischen Bestimmung. Das Foto entsteht also als die erste verbindliche Stufe eines Arbeitsprozesses. Es liefert das reale Material in Formen, Details, Lichtverteilungen, aus denen er auswählt. Ein Fotograf würde nun durch laborantische Beeinflussungen die bildnerischen Wirkungen zu steigern und zu variieren versuchen. Diesen Weg meidet Dierßen, er geht auf die grafischen Drucktechniken über. Er verfügt über gute Werkerfahrungen in Serigrafie, Lithografie und vor allem Radierung mit ihren feineren technischen Spielarten. Er kopiert nicht die fotografischen Bildwirkungen, sondern setzt sie als gut geschulter Zeichner um in die Sprache linearer und flächiger Darstellungsmittel, vorsichtig disponiert und differenziert, wobei er nach bildnerischen Gesichtspunkten auswählt oder steigert. Diese Umsetzung geschieht mit großer Geduld, mit Fleiß, mit sensiblem Eingehen auf das stoffliche Material. Der Reichtum von Strukturen und Kleinformen wird in großkonturierten Zusammenhängen geschlossen und kontrastiert. Von Anfang an ist auch spürbar, dass er in den Bildmotiven neben der Sachbedeutung auch deren Eigenschaften als Formphänomene wertet, gelegentlich auch verfremdet. Geschult durch die Erfahrungen der Abstraktion und der formalen Elemente ist der Bildaufbau übersichtlich und gezügelt.

Künstlerische Druckgrafik hat übrigens heute ihren vorrangigen Sinn nicht so sehr in dem Nutzwert der Vervielfältigung, obwohl dieser von den Anfängen des Drucks nicht zu trennen ist. Die grafischen Techniken, die diffizilen Ätz- und Druckvorgänge sind in hohem Maße an der Bildsubstanz beteiligt: Dierßen legt Wert auf diese Faktoren des Bildausdrucks.

Die Wahl der vorherrschenden Themen lässt sich eigentlich erst im überblick auspeilen; sie entspringt ja keinem beliebigen Willensentschluß, sondern grundsätzlich innerer Beziehung, intuitiver Neigung, also einer Einwirkung des Unbewussten. Erst im Zusammenhang mag man sich prüfen, was sich als Leitthema ansprechen lässt und wie weit man seine überzeugungen und Hoffnungen darin glaubt mitteilen und ins Bewußtsein heben zu können.

Zunächst fällt vielleicht auf, dass die Bilder überwiegend ausgesprochen "stille" Bilder sind, stilllebhaft, oder im engeren Sinne nature morte, tote Natur. Die sind zuständlich, statisch, ja konstatierend gesehen. Sie sind frei von aktivem Geschehen, frei vor allem von menschlichen Akteuren. Dafür spielen allerdings die Machwerke der Menschen eine Rolle in ihren unsicheren Schicksalen. Baulichkeiten, keine rühmlichen, weder dauerhafte noch sonderlich erhaltenswerte, absonderliche triviale Geräte, oft schlicht frontal oder als Fragment ins Bild gesetzt; viel Ruinöses, Kehrseiten, Schattenseiten. Selten steht die Natur für sich; meist nistet sie sich zaghaft in die merkwürdigen Konstruktionen ein und überzieht sie mit ihrer Phantasie, zehrend und belebend zugleich, oder sie setzt der perfekten Starrheit ihr Chaos entgegen. An Architekturen, die aufgerissen ihre Innenwelt entblößen, Sinnbild von Verschleiß wie von erhoffter Erneuerung, wird mit aller Akribie den Schrunden und Keimen nachgespürt. Bilder einer Infragestellung der Perfektion, der Vergänglichkeit der Phantasie.

Das Ganze wird nicht romantisch gesehen, sondern nüchtern, getreulich registrierend mit kritischem Unterton, es wird auch mit Gelassenheit und lächelnder Genugtuung "wahr"-genommen. Viele Darstellungen sind Schlüsselmotive, Metaphern einer kritischen Einsicht, und durch verstohlen eingebaute Pointen zu hintergründiger Polarität gedeutet. Wiederholt tauchen Sequenzen auf, Variationen und Wandlungen eines Themas oder Formmotivs; Zeichen für Unstabilität irdischer Erscheinungen beziehungsweise menschlicher Beziehungen zu ihnen. Eine verwandte Welt zeigt sich in Piranesis Architektur-Phantasien, Meryons Steigerung in der Phantastik, aber auch in De Chiricos metaphysischer Rätselhaftigkeit, sowie Morandis stilllebenhafter Formenwelt. Es sind formal Bildmotive, in denen konstruktive und destruktive Kräfte integriert wirksam sind und zu Aussöhnung und schöpferischer Harmonie mahnen. Und in einigen der späteren Arbeiten, die durch persönliche Erinnerungen genährt sind, erscheint etwas von dem stillen Atem der Versöhnlichkeit.

Es mag paradox erscheinen, dass Dierßen seine kritische Freude am Destruktiven, an der die Perfektion durchsetzenden und überwindenden Phantasie mit soviel konstruktiver überlegung und technischer Genauigkeit zum Ausdruck bringt. Diese Bilder – nicht nur liebenswerter Unordnung, sondern auch erschütternder Zerrüttung – entstammen einer Werkstatt und einer Werkgesinnung, in der es sehr geordnet zugeht. Aber es ist kein Fehler oder Widerspruch, wenn man deutlich sagt, was man meint.

Es zeigen sich die Grundlagen seiner Arbeit in Spannweite, Abgrenzung und Charakter deutlich profiliert. Es lag mir daran, ihre Möglichkeiten, auch auf künftige Sicht hin zu untersuchen und zu interpretieren. Es ist eine Station nachgewiesen, die eine sehr zielstrebige Entwicklung erwarten lässt.

Professor Helmut Gressieker, im Juli 1981

 
Hildesheim 2021